Eine Mutter erzählt,
dass ihr Sohn (2. Klasse) im Schwimmunterricht mit einigen
Mitschülern auf der Bank neben dem Becken warten muss, bis der
Lehrer mit den anderen Kindern im Wasser fertig ist. Und sie dann
wieder dran kommen und ins Wasser dürfen. Abwechselnd. Er muss also
mit nasser Badehose draußen warten und friert. Das hat dazu geführt,
dass er zweimal nicht zum Schwimmen mitgegangen ist. Erst jetzt hat
er es seiner Mutter erzählt. Sie überlegt, ob sie den Lehrer zur
Rede stellen oder es auf sich beruhen lassen soll.
Das führt
mich mal wieder zur Schule, und zwar grundsätzlich. Ich suche einen
Text heraus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz",
der dazu passt.*
*
Die Schule ist eine
Institution, die ganz und gar unabhängig von uns existiert. Wir sind
immer konkrete Menschen, und das heißt für die Eltern und Kinder:
dieser Vater, diese Mutter, diese Kinder. Und unabhängig von uns als
Familie existiert viel in der Welt: die Kneipe nebenan, das
Stadttheater, der Bundestag, und eben auch die Müller-Schule in der
Meierstraße und die Meier-Schule in der Müllerstraße. Klar, das
hat auch etwas mit uns zu tun, denn wir gehen ja in die Kneipe und
ins Theater, wir wählen das Parlament und schicken die Kinder zur
Schule.
Aber es ist eben auch
wahr, und das zu übersehen macht die Macht der Schule aus, dass
diese Institution, die Schule, jede Schule zunächst einmal mit uns
nichts, aber auch ganz und gar nichts zu tun hat. Die Schulgesetze:
nicht von uns beschlossen. Die Lehrer: nicht von uns bestellt. Die
Schulordnung: nicht von uns in Auftrag gegeben. Die Lehrpläne: nicht
unsere Erfindung. Methodik, Didaktik, Motivation, Evaluation und das
ganze weitere depersonalisierende Brimborium: weiß Gott nicht unsere
Sache. Nichts, aber auch gar nichts ist von der Schule auf unser
Konto zu buchen. Wir hier - die Schule dort.
So - und von
dieser radikalen, grundsätzlichen und wesentlichen Unterscheidung
aus sehe ich mir an, was das dort denn ist, die Schule, wie sie
strukturiert ist, was sie will, was sie bewirkt. Und von daher kommt
meine Entschlossenheit, für meine Kinder einzustehen und den
Anforderungen der Schule immer wieder mit Verwunderung zu begegnen:
"Tatsächlich – das hat der Lehrer gesagt? Was hat er
sich eigentlich dabei gedacht?" Immer wieder.
Und von daher kommen
dann meine Reaktionen, mein Umgang mit dem Merkwürdigen da draußen
– das Schule heißt und durch das ich selbst damals, zu meiner
Zeit, durchwanderte, durchmusste. Exotisch schon damals, eine
seltsame Erfindung, umgeben von der Aura des Absoluten, wie Sonne,
Mond und Sterne. Nur: dass ich heute diese Fiktion sehe, als
Erwachsener darum weiß, dass die Schule eben nicht als göttlich
Ding vom Himmel auf die Erde gekommen ist, sondern ein ganz und gar
menschlich Ding ist, ersonnen und gemacht von Menschen wie Du und
ich, und dass man das alles gänzlich anders sehen kann.
Ich
lade also jeden ein, sich von der Schulideologie zu befreien. Big
Brother, das Kuckucksnest, Trumans World zu verlassen, diese gläserne
Glocke, die Kinder leibhaftig einfängt, niemals wirklich entlässt,
sondern sie als großgewordene Kinder lebenslang gefangen hält.
Schule muss nicht sein!
Sollte sie sein? Jeder von uns gibt hier seine eigene Antwort. Ein Tipp
für Unentschlossene: Fragen Sie die Kinder, ein halbes Jahr nach der
Zuckertüte. Sie kennen noch den Zusammenhang, wissen noch um das,
was möglich ist, sie haben es noch im Blick, was Leben ohne Schule
heißt. Dies alles zu wissen macht sehr sicher, die eigenen,
aus der familiären Situation kommenden Antworten zu finden.
Keine
Hausaufgaben gemacht? "Ran an die Arbeit" oder "Dann
lass es eben". Ein Brief, dass mein Kind sich in der Schule
nicht benimmt? Wozu sollte es sich benehmen? Und was heißt
eigentlich "Benehmen" in der Schule? Schlägt es andere
Kinder? Vielleicht war das wichtig und richtig. Redet es zu laut im
Unterricht? Vielleicht war das wichtig und richtig. Tut es nicht, was
der Lehrer will? Vielleicht war das wichtig und richtig.
Jeder Mensch, auch jeder
junge Mensch, auch jedes Kind in der Schule tut immer etwas
Sinnvolles, mit Grund, aus seiner eigenen, individuellen
Schlüssigkeit und Weltdeutung heraus. Das interessiert mich.
Also: Warum keine Hausaufgaben? Was führte zur Schlägerei? Zu
Gegenreden? Ich liebe mein Kind und ich freue mich, wenn ich es mehr
und mehr immer wieder neu verstehen lerne. Soll ich mein Kind
korrigieren um der Schule willen? Soll ich einen lebendigen Menschen
korrigieren, weil Herr Meier das gern so von mir hätte? Wer bin ich
denn?
*
Was also ist im Fall mit dem Schwimmunterricht
zu tun? Ich habe gesagt, ein Gespräch mit dem Lehrer kann nicht
schaden. Motto: Ich habe keine Lust, dass mein Kind sich erkältet.
Aber das weiß er doch selbst. Er kann seinen Unterricht besser
handhaben, wenn die einen Kinder im Wasser sind und die anderen auf
der Bank. Erkältungsrisiko eingeschlossen. Wie immer hat auch
dieser Lehrer sein eigenes System, mit den Kindern und seinem
Lehrauftrag zurechtzukommen. Eltern stören da nur. Doch auch wenn
das alles so ist: Ich bin nicht für die Schule und den Lehrer da,
sondern für mein Kind. Und dann interveniere ich. "Ich möchte
nicht, dass mein Kind mit nasser Badehose rumsitzt und sich
erkältet."
* Schule mit
menschlichem Antlitz, 2001, S. 21 ff.