Montag, 28. Dezember 2020

Corona und der Mai 1945

 


 

In alten Unterlagen fand ich Aufzeichnungen meiner Großmutter aus der Zeit des Kriegsendes 1945. Ihr Haus in Berlin war von Bomben getroffen und in Flammen aufgegangen. Sie hatte neun damals shon erwachsene Kinder und mit einer ihrer Töchter und der zweijährigen Enkelin war sie bei Verwandten in der Nähe von Magdeburg untergekommen. Kurz vor dem 8. Mai, dem Kriegsende, hat sie ihre Aufzeichnungen fortgesetzt. Ich stelle davon etwas in den Blog.

Wir werden 75 Jahre später grade von Corona geplagt – aber wenn ich diese Briefe lese, ordne ich das mal anders ein. Coroa ist ja nicht harmlos, wirbelt alles durcheinander und tötet auch. Aber ich frage mich doch, ob wir nicht jammern auf hohem Nivau. Und die Aufzeichnungen meiner Großmutter sind ja nur ein kleines Fenster zum Blick auf das riesige, wirkliche und wahrhaftige Grauen damals. "Frau Baronin, Sie werden morgen verhaftet." Meine Urgroßmutter nahm sich vor Vertreibung und Enteignung das Leben... 60 Millionen Kriegstote. Corona? Ich bleib mal auf dem Boden.

 

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Brief vom 6. Mai 1945

Liebe Kinder!

Der erste Sonntag nach all den Schrecken, all der Angst, den Sorgen. Wo mögt Ihr alle sein? Wie mag es Euch gehen? Wie mögt Ihr den Sonntag zubringen? Es gibt so viele Fragen so voll Angst, die ich an Euch stellen möchte, deren Beantwortung ich voll Angst erwarte! Ihr armen drei Berliner. Was mögt Ihr ausgestanden haben! Wie oft habe ich an Euch gedacht! Es ist schrecklich, so hier zu sitzen, zu warten, zu denken! Und wann werden wir endlich Botschaften von Euch Dreien und von Euch allen erhalten?! Und wie mag es Euch gehen? Von keinem weiß ich, wo er ist.

Nun will ich Euch so der Reihe nach erzählen. Von C.-J. kam das letzte: eine Karte, er kam von Meiningen mit dem letzten Zug. So hörten wir zuerst von dem Vordringen der Amerikaner – wir haben weder Radio noch Zeitung gehabt – waren ganz erschüttert. Und dann bangten wir um die Meininger: M. und die drei kleinen Kinder und Tante M. Wie haben wir uns den Kanonendonner entsetzlich, schrecklich vorgestellt, die armen verschüchterten Kleinen und die arme Mutter, immer dachten wir an sie, und dann wurde Mühlhausen genannt und die Amerikaner kamen näher nach Weimar! Unser Schrecken, unsere Angst nahm kein Ende! Die Russen näherten sich Meißen, die Amerikaner Leipzig! Ob E. dort blieb? Wir haben es uns so oft gefragt.

Und dann kamen die schrecklichen Tage, als der Kampf um Berlin losging! Wir hörten an unserem geflickten kleinen Radio Brandenburg, Potsdam nennen, Marienfelde, unser liebes Lichterfelde, Lankwitz, Friedenau, den Norden, wo F., auch R. stehen. Immer, immer waren wir in größter Sorge. So ging's weiter bis endlich zur – Kapitulation von Berlin! Ihr könnt Euch vorstellen, wie verzweifelt wir hier sitzen, wie wir Eure Ängste teilen, immer wieder das schreckliche Empfinden, nicht bei Euch zu sein, Euch nicht helfen zu können.

So waren wir voll Besorgnis. Nachts die Flieger machten uns zu schaffen, sie brummten so entsetzlich und waren nahe, die Fenster klapperten und die Türen rüttelten im Schloß. So nun nähert sich der Sonntag dem Ende, wie mag er gewesen sein?



 

Montag, 21. Dezember 2020

Im Dannenröder Forst - Du bist nicht allein!

 


 „Du bist nicht allein! Du bist nicht allein! Du bist nicht allein!“ Als die jungen Leute rechts und links zu skandieren anfingen, wurde es doch noch einmal anders, erreichte einen anderen Level. Ich hatte in der Nähe zu tun und wollte einen Abstecher zum Ort des Geschehens machen. Dem Ort, der in den Nachrichten war und mit dem ich mich verbunden fühlte. Dem Dannenröder Forst. Bäume fällen für die nächste Autorase? Find ich heutzutage unpassend. „Muss ja nicht durch den Wald gehen, wenn es denn sein muss – wenn es denn sein muss“, so war ich unterwegs. Jedenfalls wollte ich mal ein bisschen Solidarität zeigen, mich wenigstens mal blicken lassen. Samstag Spätnachmittag vor dem großen Aktionstag morgen, am Sonntag, dem 29. November, an der geplanten A 49 bei Gießen.

Dann waren da drei große Zeltlager auf den Weiden, sicher 1000 Personen. Fand ich viel. Alle liefen mit Maske rum. Fand ich überraschend und überzeugend. Friedensvoll das Ganze. Auf dem Weg durch den Wald nach vorn war dann Sägegrusel zu hören. Gar nicht schön. Der Zaun mit Natodraht oben drauf: Noch weniger schön. Das sicherte die Maschinen, die Logistik, Polizeifahrzeuge und den Wasserwerfer ab. Wie will man da noch was verhindern? Ich schnappte mir einen grünen großen Nadelzweig – jetzt hängt er im Ekeldraht. Mein kleines Zeichen.

Links gings zur Aktion. Es war schon ziemlich dunkel, ungefähr 50 Leute waren unterwegs. Wollten wie ich einfach mal schauen, bevor es morgen zur Sache geht. Nach 3 Minuten an Zaun lang kam – nur ein rotweißes Absperrband, das übliche, von Baum zu Baum gezogen. Vor mir, das heißt auf der anderen Seite des Bands: große freie Fläche, genug Platz für die Autobahn, vollendete Tatsache. Doch weiter linkslinks, da war Aktion: in 200 Meter Entfernung Maschinen, Säge, Rufe, Fallgeräusch der grünen  Nadelriesen. Gar nicht schön. Gruselig. Ging ans Herz.

Auf der anderen Seite des Bands, 10 Meter vor mir, stand eine Handvoll Polizisten, in Kampfmontur. Lässig. Unsereins war ja auch brav, irgendwie touristisch unterwegs. Jedenfalls heute. Musterung, Auge in Auge. Schweigen. Aber dann: einer, ein Mach-Ich-Nicht-Mit, brach durch, rannte zu den Waldriesen. Die Polizisten vor mir hinterher. Er wurde auf den Boden geworfen, Handschellen, abgeführt. Wir, diesseits, im Herzen jenseits, überrascht, reglos, überwältigt. Wie der Mensch, der jetzt von anderen Menschen abgeführt wurde. Dann kam es das erste Mal: „Du bis nicht allein“, leise, dann mehr und dann richtig laut. Die drei verblieben Polizisten vor uns strafften sich, einer hielt den Schlagstock in der Hand.

Und schon wieder gab es Alarm, vorn bei den Maschinen sprintete der Nächste Mach-Ich-Nicht-Mit zu den Bäumen hin, auch er wurde gefasst und abgeführt. „Du bis nicht allein, Du bis nicht allein, Du bist nicht allein.“ Robust und laut.

Was ist schon ein Band aus Plastik? Das ist nichts. Aber es war alles. Es sagte klar und deutlich, nicht misszuverstehen: bis hier hin und nicht weiter! Und wenn ich da einfach...Ja, was dann? Hinrennen? Mir nicht gefallen lassen, was mir nicht gefällt? Den ganzen Kladderadatsch, der dann unweigerlich kommen würde, über mich ergehen lassen? Tja, ich hab drüber nachgedacht, in Erwägung gezogen, es bleiben lassen. Aber zwiespältig. Wer will ich sein? Wer bin ich? Die Bäume, jeder einzelne schöne Riese, sollen stehen bleiben, wachsen und leben! Die Autos können auch woanders lang fahren, durch Wiesen und Felder...auch nicht schön, aber besser, als Baum tot und Wald weg! Der bin ich. Der will ich sein.

Das "Da kannst Du nichts machen“ war nicht da. Klar kann ich was machen. Wie die beiden eben. Nur: das bringt nicht die Baumrettung. Es bringt für mich aber was: das gute und tiefe Gefühl, mir nicht alles bieten zu lassen. Schon klar, aber der Preis war mir dann zu hoch. Gebrochene Knochen, Verfahren am Hals. Feige? Einsicht? Abwägen? Ich hab es halt gelassen. Und die anderen rechts und links neben mir auch. Aber ich versteh sie, die oben auf den Bäumen trotzen und für den Wald und ihr Selbst einstehen: Du bist nicht allein.

Hat mich aufgewühlt, das „Du bis nicht allein“. Wenigstens das wurde den beiden Aktivisten mitgegeben. Wenig. Aber mehr als Null. Wie mein Besuch vor Ort: wenig, aber mehr als Null. Und ich habe wieder einmal gemerkt: Mit mir ist zu rechnen. Alles geht mir nicht durch... Es kommt drauf an, um was es geht, aber ich steh parat. Und werde dann nicht allein sein.

 

Montag, 14. Dezember 2020

Der Tiger

 


Heute kommt eine Geschichte, die ich für meine Kinder geschrieben habe. 

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Der Tiger 

Der lange Schwanz des Tigers bewegte sich rasch. Für die vier Krabben war es das Zeichen. Sie kamen unter dem großen Rhabarberblatt hervor und liefen blitzschnell den Stamm der Kokospalme hoch. Der Tiger fauchte. Mit einem Satz sprang er über die Sandbank. Er streckte sich in den heißen Sand und schloss die Augen. Die vier Krabben lockerten vorsichtig eine große Kokosnuss. Sie fiel haargenau kurz vor die Nase des Tigers. Der Tiger schob die Kokosnuss mit der Tatze beiseite, schlug sein Notizbuch auf und schrieb.

Waren wir gut?“ fragten die Krabben. „Ihr habt es prima hinbekommen, so, wie wir es geübt haben“, antwortete der Tiger. Der Delphin überbrachte die Nachricht dem Wassertropfen, und der Wassertropfen flog zu den vier Krabbenmädchen. Sie freuten sich sehr, dass es mit der Kokosnuss so gut geklappt hatte.

Der Tiger sah auf. Vor ihm stand ein rosa Pelikan. „Du sollst schnell zum Wind hinter dem Farn kommen, er bittet Dich“, sagte der Pelikan. Der Tiger sah zu den Krabben, die jetzt die Kokosnuss aßen. Sie nickten ihm zu. Er stand auf und hängte sich an die Federn des Pelikans. Sie flogen eine Weile, bis sie in den Farnwald kamen. Der Tiger lief nun sehr schnell, und der Pelikan blieb zurück.

Tiger“, rief der Wind hinter dem Farn, „Du musst mir diesen Stein wegrollen, ich schaffe das nicht.“ Der Wind kam dem Tiger entgegen. Der Tiger fauchte den Stein an, und der Stein rollte beiseite. Mit einem lauten Knall kam der kleine Sohn des Windes hinter dem Farn aus dem Erdloch, das der Stein verdeckt hatte.

Ich habe beinah keine Luft mehr gekriegt“, weinte er. Der Stein war erschrocken. „Wieso, Du bist doch Wind, wieso brauchst Du noch Luft?“, fragte er. „Das kannst Du nicht wissen“, sagte der Tiger, „kleine Winde brauchen immer mehr Luft als sie selbst sind.“ Er rollte den Stein wieder vor das Erdloch.

Mir gefällt es besser, wenn der Stein da weg ist“, sagte der blaue Leguan. Der Tiger sah den Stein an, und der Stein sah den Tiger an. Der Stein zuckte mit der Achsel, und der Tiger zuckte mit der Achsel. Der Biber konnte den Stein wegrollen, und der blaue Leguan kuschelte sich in das Erdloch.

Als es dunkel wurde, sprang der Tiger wieder über die Sandbank. Er streckte sich in den noch warmen Sand und schloss die Augen. Er hörte fern die riesigen Dampfer tuten, und er hörte das Wispern der Strandmäuse. „Krabben“, flüsterte der Tiger, „seid Ihr schon zu Hause?“ Ein Krabbenmädchen brachte ihm Melonensaft. „Sie sind schon lange zu Hause, Du warst fort und hast es nicht bemerkt“, sagte sie. Der Tiger nickte. Das Krabbenmädchen nahm den Krug und ließ sich ins Wasser gleiten. Der lange Schwanz des Tigers bewegte sich rasch, und diesmal war es das Zeichen für die vier kleinen Eulen, die erlöst aufatmeten, dass der Tiger endlich das Zeichen gab.
















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Montag, 7. Dezember 2020

Kauf es einfach!



Ich besuche meine Mutter. Zum Mittagessen nimmt sie einen Schuss Maggi, und zwar immer. Heute Mittag: "Wo ist das Maggi?" Das Maggi ist weg. Nicht auf dem Fensterbrett, nicht im Küchenschrank rechts, nicht im Küchenschrank links. Zauberei. "Ich kauf Dir nachher eine neue Flasche." Das will sie aber nicht. "Das Maggi taucht schon wieder auf." Ich kauf es trotzdem.


Und denke an der Kasse nach: Gehe ich zu weit? Bin ich übergriffig? Sie will doch kein neues. Ich finde aber, dass es da sein soll. Weil sie es jeden Tag hat. Ich mache mir also ihre Gedanken. Was ich oft tue: Mir Gedanken darüber machen, was für andere gut ist. Na ja, es sind meine Gedanken, diese Deine-Gedanken. Ich bin doch nicht altländisch-oben-unten unterwegs, rede ich mich raus. Außerdem und trotzdem und sowieso: habe ich nicht recht? Tja, da bin ich doch mal wieder im Alten Land unterwegs. Oder ist es nur meins, nicht Deins, was hier abgeht? Ich krieg das alles mit, an der Kasse, und nehm es mir nicht übel. Schmunzel über meine Besserwisserei. Wenn sie denn eine ist!

Wenn ich den anderen nicht in Ruhe lassen kann, wenn ich es für ihn so einrichten kann, wie es gut für ihn ist - besser als er das selbst weiß. Was spielt sich da ab? Warum lasse ich die Kinder nicht so hoch klettern, wie sie wollen? Warum nehme ich für Dich einen Schal zum Spaziergang mit? Warum bringe ich Mon Chéri und keine Rose mit, wenn ich nach Hause komme? Oder doch lieber die Rose? Ich bin verstrickt in dieses feine oder grobe Netz, das mich zu Dir sehen läßt in dieser Kümmerei. Nehm ich Dir dann etwas von Deiner Würde? Ist das ein Oben-Unten? Oder bin ich nur achtsam, so wie es gut ist zwischen uns? Wie bin ich denn unterwegs?

Wenn wir das immer wüßten! Weshalb also kauf ich das Maggi? "Mach Dir keine Gedanken, kauf es einfach." Na gut. Ich stelle das Maggi beim Abendessen auf den Tisch. "Danke, aber wär doch nicht nötig gewesen." "Na ja", sag ich.