Die dreijährige
Anne und ihr Vater Martin kommen im Winter zum Spielplatz. Anne will
rutschen und klettert die Leiter hoch. Aber es liegt Schneematsch auf
der Rutsche, und Martin sagt, dass sie nicht rutschen soll. Weil sie
eine nasse Hose bekommt und sich erkälten kann. Anne will trotzdem
rutschen. Martin steigt rasch die Leiter hoch und holt Anne nach
unten.
Kurz darauf kommen die dreijährige Karin und ihr
Vater Klaus zum Spielplatz. Karin will rutschen und klettert die
Leiter hoch. Aber es liegt Schneematsch auf der Rutsche, und Klaus
sagt, dass sie nicht rutschen soll. Weil sie eine nasse Hose bekommt
und sich erkälten kann. Karin will trotzdem rutschen. Klaus steigt
rasch die Leiter hoch und holt Karin nach unten.
Beide Väter
lieben ihre Kinder. Beide Väter tun dasselbe. Und dennoch gibt es
einen großen und hochwirksamen Unterschied. Diesen kann man nicht so
ohne weiteres erkennen, er will erfühlt werden. Aber man kann ihn
erklären. Ohne dass ein Vorwurf daraus entsteht – aber sehr wohl
das Aufzeigen eines anderen Wegs.
Beide Kinder erleben, dass
sie nicht tun können, was sie wollen. Was sie als das Beste für
sich erkannt haben. Nämlich zu rutschen, auch wenn auf der Rutsche
Schneematsch liegt und der Vater das nicht will. Beide Kinder sind
Schneematsch-Rutsche-Kinder. Beide Kinder können nicht tun, was sie
für richtig halten. Beide erleben den Vater als Verhinderer, als
Stein in ihrem Weg.
Annes Vater Martin ist in der amicativen
Welt zu Hause. Karins Vater Klaus ist in der traditionellen, der
pädagogisch orientierten Welt zu Hause. Im Unterschied zu Martin
trägt Klaus die Verantwortung für sein Kind. Für die Beziehung von
Klaus und Karin gilt, dass der Vater im Herausfinden und Bewerten
des Richtigen dem Kind übergeordnet ist.
Es gilt, für Klaus gilt: Ich weiß besser als
Du, was für Dich gut ist.
Klaus liebt
seine Tochter, und er ist in Sorge um sie. Die amicative Sicht auf
Klaus ist ohne Vorwurf, seine Liebe und Sorge werden gesehen. Dennoch
aber wird etwas Ungutes erkannt, etwas, das sich vermeiden lässt,
wenn man amicativen Boden betritt. Dies geht so:
Aus
amicativer Sicht erlebt Karin die Haltung ihres Vaters Klaus – ich
weiß besser als Du, was für Dich gut ist – als
Grenzüberschreitung, schärfer ausgedrückt: als einen psychischen
Angriff auf ihre, Karins, Bewertung. Sie erlebt, dass sie nicht ein
Schneematsch-Rutsche-Kind sein darf, dass ihr Wille nicht richtig
sein, dass ihre Weltdeutung falsch sein soll. Die Anspruchshaltung
ihres Vaters erreicht Karin im Tonfall der Stimme, in der Art, wie er
die Leiter hochkommt, wie er sie anfasst, wie sein Gesicht aussieht,
auf den psychischen Kommunikationskanälen.
Karin setzt sich
innerlich dagegen zur Wehr, dass sie nicht das Kind sein darf, das
sie sein will. Sie ist verstrickt in psychischen Übergriff und
Abwehr. Sie fühlt, dass ihre Position weniger wert sein soll.
Insgesamt: sie fühlt sich demoralisiert.
Zur Verhinderung im Außenbereich – sie kann nicht tun, was sie
will – kommt die Grenzüberschreitung im Innenbereich, der
psychische Angriff durch die pädagogische Anspruchshaltung.
Anne
erlebt dies nicht,
weil ihr Vater Martin keine pädagogische, sondern eine amicative
Haltung hat. Nach amicativer Auffassung gibt es auf der Innenseite
der Beziehung kein objektiv
besseres Wissen eines Erwachsenen darüber, was gut für ein Kind
ist. Annes Vater interveniert aus seinen subjektiven
Gründen, die er nicht als objektiv
wertvoller einstuft als die Gründe des Kindes. Es gilt, für Martin
gilt: Jeder spürt selbst am besten, was für
ihn gut ist.
Einerseits sind beide
Väter gleich: Beide sind in Sorge, dass ihre Kinder sich erkälten
können. Und deswegen greifen sie ein. Doch während Klaus meint,
dass er objektiv Recht hat (und nicht ahnt, welche ungute Wirkung das
auf Karin ausübt), interveniert Martin ohne den Anspruch, dass dies
zum objektiv Besten des Kindes geschieht, besser als es das Kind,
seine Tochter Anne, selbst wahrnimmt.
Dies
erspart Arme die Demoralisierung, die Karin erlebt.
Anne bekommt mit, dass Martin ihre Bewertung nicht ändern will. Dass
er zwar anders bewertet und dies auch mitteilt und sich wünscht,
dass sie seiner Bewertung folgt. Dass er ihr aber ihre abweichende
Bewertung wirklich lassen kann. Sie erlebt sich auf der psychischen
Ebene als gleichwertig. Ihr inneres Königtum wird nicht angetastet.
Der Vater geht entschlossen gegen sie vor im Außenbereich, er holt
sie ohne Wenn und Aber von der Leiter. Und zwar aufgrund seiner
eigenen Interessen (Angst und Sorge verringern). Doch im Innenbereich
schwingt die Achtung gegenüber ihrer Fähigkeit mit, das eigene
Beste selbst spüren zu können. So, wie Anne es sieht. Nur, dass er
dies aus seinen Gründen jetzt nicht Wirklichkeit werden lassen
kann.
Die äußere, physikalische Aktion ist dieselbe – die
innere, psychische Dimension ist grundverschieden. Dadurch ist die
erlebte Realität gänzlich anders. Väter und Töchter verlassen den
Spielplatz, und was so zum Verwechseln ähnlich aussieht, ist doch so
verschieden. Zwei Kinder können nicht tun, was sie wollen. Aber das
eine Kind, Karin, wird – trotz väterlicher Liebe und Sorge –
zusätzlich belastet mit einer seelischen Grenzüberschreitung, einem
psychischem Angriff und Demoralisierung.
Das andere Kind, Anne,
erlebt sich trotz der Verhinderung seines Wunsches als geachtet und
anerkannt.