Montag, 6. Oktober 2025

Ich ertrage sie nicht, ich trage sie

 

 

Klara (6) und Kolja (4) sind zu Besuch. Alles läuft gut, doch dann will Kolja auch mal den Leuchtstab haben, den Klara hat. Aus meiner Sicht berechtigt, Klara spielt damit seit 10 Minuten. Koljas Bitte wird nachdrücklicher, Klara rückt ihn nicht raus. Es kommt zum Streit. Lauter Streit, Tränen.

Soll ich intervenieren? Das „Kolja ist jetzt auch mal dran“ ist da, es ruft mich auf. Aber ich will das nicht von mir aus tun. Fände ich irgendwie unpassend, unhöflich. So eine Intervention sagt für meine Ohren im Subtext: „Ihr könnt Eure Konflikte nicht allein lösen. Ihr seid da unzuverlässig. Nicht vertrauenswürdig. Unfähig. Kinder eben, die das noch nicht können.“ Ich wäre die Ordnungsmacht. Meine Intervention käme mir übergriffig vor.

Lasse ich die Kinder im Stich? Bin ich herzlos, unsensibel? „Du kannst doch nicht einfach nur zusehen, wenn sie sich streiten und nicht weiterwissen."“ Das hör ich schon. Doch ich sehe nicht nur zu. Ich sehe zu ohne „nur“. Ich bin ja da, und sie sehen mich. Ich schicke Freundliches, Anteilnahme. Ich schicke keine Ungeduld, Vorwurf, Grummel. Und ich bin ja da, wenn sie mich zu Hilfe rufen sollten. Und auch ein „Soll ich Euch helfen?“ ist schon viel zu viel Einmischen, stößt sie aus ihrer Konzentration aufeinander.

Nein, ich trage ihren Streit, ihr Geschrei, ihre Tränen. Ich ertrage sie nicht, ich trage sie. Und all die vielen üblichen Möglichkeiten, die an mich heranwabern, schicke ich weg, auch freundlich und gelassen. Möglichkeiten: Den weinenden Kolja auf den Arm nehmen, Klara ins Gewissen reden, „Wenn ihr Euch nicht einigt, verschwindet der Leuchtstab mal für eine Weile“, Ablenkungsmanöver starten, sie rausholen aus der Situation („Wir gehen jetzt in den Wald“), Thematisieren Streit und Gerechtigkeit, usw.

Ich habe Geduld, krame in der Küche weiter rum. Klara behält den Stab, aber auch sie hat Tränen in den Augen. Es wird ruhiger, es wird still. Dann höre ich an ihren Stimmen, dass sie sich nicht mehr Gram sind, sie verhandeln irgendetwas, dass nicht mit dem Leuchtstab zu tun hat. Sie kommen zu mir, suchen meine Nähe, und wir besprechen, ob wir rausgehen. Der Stab in Klaras Hand hält die Klappe.

Einen Satz sage ich ihnen aber doch. Ich habe ihre Gesichter beim Streit gesehen. „Wir tun etwas Ungehöriges.“ Beschämtsein, Schuldgefühl. Schnute, Blick auf den Boden. Ich sage ihnen: „Bei mir könnt Ihr auch streiten. Das ist ok. Da gibt es keine Schimpfe.“ Mir liegt daran, ein Pflaster zu kleben, ein Trostbonbon zu geben, Sonnenstrahlen zu schicken.

Und ich freue mich: Ich habe sie nicht aus ihrer Balance gestoßen, ich habe ihre Souveränität nicht angetastet. Ich habe den Pfad ihrer Würde nicht verlassen: „Auch wenn Ihr streitet und schreit und Tränen fließen – Ihr seid Menschen mit einer Würdekrone.“ Ich weiß aber auch, dass ich das nur kann, weil mich ihre Töne, Emotionen, Kinderbotschaften, Signale aus meiner eigenen Kindheit nicht verwirren, zum Intervenieren drängen.

 

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