»Hast Du genascht?«
Das Honigglas steht
auf dem Tisch vor mir, es ist offen, der Deckel liegt auf dem Tisch.
Der Finger, der eben noch süß im Mund war, ist blitzschnell
verborgen in der anderen Hand. Ich bin gelähmt, erstarrt. Die Sonne,
das Licht, die Bienen, der Garten draußen mit all den Blumen und den
Düften, die klangvolle Sommerwelt: aus. Eine dunkle Wolke dringt von
der Stimme des Großen hinter mir in die Küche.
»Ich sehe
doch, dass Du genascht hast!«
Ich will all das schützen,
bewahren, bergen. All das, was gut, heilig, schön, prächtig,
liebevoll ist. Den Honig im Glas, die zigtausend Bienen, die mir ihr
Geschenk gemacht haben, die Freude, die vom Mund aus in mich
hineinzieht, der erfüllte Wunsch, die Verheißung: Du kannst
glücklich sein. Honig, pures Glück.
»Nein.«
Ich
will mir das nicht entreißen lassen, wegstehlen lassen,
schlechtreden lassen. Ich bin im Rosenland unterwegs, im Honigland,
im Lichtland. Diese verhexende Dunkelheit in meinem Rücken, ich
spüre ja, wie sie stärker wird, der Schicksalstornado rast heran.
Ich kenne das ja, ich werde mitgerissen werden, zerschellt irgendwo
stranden, zerschlagen, gedemütigt, herabgesetzt, vertrieben.
»Zeig
her!«
Die Finger der Bergehand werden aufgestemmt, der
Honigfinger triumphierend hochgerissen, Beweis meiner Unartigkeit,
Türöffner für die folgende Seelenfingerei. Grenzüberschreitung,
Willkür, Gehirnwäsche. Ich bin chancenlos, ich bin ausgeliefert,
mein Herz, meine Seele, meine Liebe: beiseite gestoßen, Pech und
Schwefel über mich.
*
»Hast Du genascht?«
Ich
fahre erschrocken hoch … und weiß mich doch geborgen. Klar habe
ich genascht, wie die Großen das nennen. Ich bin dem Honig gefolgt,
der Einladung der Bienen, des Lichts und des Lebens, des Sommers und
der Blumen. Er steht uns Kindern zu, dieser Honig, ein Finger voll,
viele Finger, das ganze Glas. Die Wucht der Richtigkeit meines Seins
und die Wahrheit des Honigs tragen mich. Die Stimme des Mädchens
hinter mir schwingt ein, sie ist so süß wie der Honig im Glas.
»Willst Du auch?«
Schnelle Schritte, Einverständnis
der Herzen, leuchtende Augen, wir lachen, und es tut gut. So viel
Friede, so viel Freude. So viel Vertrauen, so viel
In-die-Seele-Sehen. Ja, wir sind auch verschmitzt. Wir wissen schon,
was die Großen davon halten. Aber sie sind fern, wir sind geschützt
durch die Macht des Honigs und durch unseren Glauben an uns selbst.
Wir schließen das Glas, klettern durchs Fenster und laufen in unser
Glück.
Prolog aus H.v.S., "Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen", 2023

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