Montag, 14. September 2020

Schauen - Geschenk des Lebens






Ich bin mit Yann (4) auf dem Spielplatz. Vor uns spielen vier Kinder (8-10) ein Ballspiel: Sie schlagen sich den Ball über eine fest installierte Tischtennisplatte zu und laufen dabei um die Platte herum. Viel Dynamik, viel Emotion, mit Gewinnen und Verlieren. Yann schaut und schaut. Eine halbe Stunde lang. Dann locke ich mit „Nach Hause?“ und unseren Spielplänen dort. Wir ziehen los.

Schauen und schauen und schauen... Wirklich, ein Geschenk des Lebens! Einfach nur schauen, vergessen der Rest. Klar, kenne ich. Aber es hat schon lang nicht mehr angeklopft. Es fliegt alles so dahin. Oder fließt, wenn es sich ruhiger anlässt. Aber Anhalten, Innehalten, Aus- und Abschalten und Schauen: das ist doch eher selten.

Ich habe es erst nicht wahrgenommen, dass Yann da so verlängerte und verlängerte. Ja klar, er sieht sich das mal an, was die großen Kinder da so machen. Aber es verwandelte sich und veränderte die Dimension. Aus dem Hinsehen wurde das Schauen.

So ein Schauen zieht mich aus der normalen Geschäftigkeit, aus der Normalität eben. Es ist eine Zauberei, eine Verzauberung des Alltäglichen. Ein Mitsein, Mitschwingen. Anhalten der Seele.

Ich habe gewartet, dass Yann das Signal zum Aufbruch gibt. Er saß ja schon im Buggy, startbereit wir beide. Aus meinem Warten wurde ein Hinsehen zum Spiel der Kinder. Erst sah ich sie nur um die Platte laufen und mit dem Ball hantieren, dann verstand ich die Spielregeln. Und verfolgte ihr Spiel und die Varianten, die ihnen einfielen. Ich bekam zu jedem der vier Kinder eine immer deutlichere Wahrnehmung, erlebte ihre Individualität, ihre Stimmen, ihr Aussehen, ihre Aktionen. Aus meinem Warten wurde ein Schauen: das Fenster öffnete sich, ich sah in das Leben.

Wir zottelten dann weiter. An der Straßenbaustelle arbeiteten und lärmten der große Bagger und der kleinen Kipper. Der Bagger rumorte, kratzte den Sand zusammen, packte ihn und übergab ihn dem Kipper. Der fuhr nach sechs Einladungen zum Sandhaufen einige Ellen weiter hinten und kippte ab. Rückwärts weg vom Bagger, umdrehen, vorwärts zum Sandhaufen und zurück. Wir haben zig mal dieses Ritual der beiden erlebt. Schauen eben.

Auf dem Weg nach Hause war ich im Schaumodus. Ich schaute in die Welt und sog alles rechts und links auf. Zum Schauen muss ich nicht stehen bleiben, Schauen geht auch dann, wenn ich mich bewege. Es ist die Bewusstheit, die große Aufmerksamkeit. Die Achtsamkeit.

Überall möglich. Das Schauen wartet. Einen Tag später setze ich mich auf eine Bank in den Feldern, die ich beim Joggen entdeckt habe. Ich sitze dort so für mich hin und schaue. In die Abendwolken. Geschenk des Lebens.