Ich räume meine Bilderkiste auf, finde ein Foto von einer Siebenjährigen, aus der Zeit meiner Kinderforschung. Ich lese meine Aufzeichnungen (von vor fast 50 Jahren) durch und erinnere mich genau:
Andi (7) weint. Wir sind
in einem Zeltlager, ich bin zu Besuch. Ich kenne sie erst ein paar
Stunden. Die anderen sind gerade nicht da. Ich knie mich vor sie hin,
sie steht drei Schritte weg. Sie hält die Arme vors Gesicht, sieht
ab und zu her und weint. Ich bin ganz konzentriert und mache mich
auf. Ich höre ihr zu und
ich habe Raum in mir für ihre Tränen.
Ich sage mit meinen
Augen: „Hallo Andi, ich höre Dir zu und habe Platz für Deine
Tränen. Du kannst mir Dein Leid erzählen.“ Sie kommt langsam auf
mich zu, bleibt stehen, sieht her und weint weiter. „Du kannst
kommen und Dich in den Arm nehmen lassen. Du kannst aber auch dort
bleiben und mich zuhören lassen“, sage ich ihr mit meinen Augen
und mit meinen Gefühlen aus dem Bauch.
Ich beginne, mich
weiter zu ihr fallen zu lassen, sie beginnt, weiter auf mich
zuzugehen. Plötzlich kommt ihre Gruppenleiterin – Glas zerbricht,
eine Kreissäge kreischt, Singvögel fallen zu Boden. „Wer wird
denn weinen“, sie nimmt Andis Hand und zieht sie ins Zelt. Ich
bleibe voll Schmerz zurück, bin ohne Vorwurf. Voll Schmerz über
diesen Erwachsenen.
*
Wir sind es gewohnt,
große emotionale Geschehnisse bei den anderen nicht mit Ruhe ansehen
zu können. Wenn der andere sehr heftig reagiert, eilen wir herbei,
um ihn zu beruhigen, etwa wenn er weint. Oder wir beginnen ihn zu
trösten oder von den Dingen zu reden, die Tränen eigentlich nicht
nötig sein lassen.
In Wirklichkeit geschieht dann, dass wir
uns selbst beschwichtigen und trösten. Dieses Beschwichtigungs- und
Trostverhalten haben wir der Erwachsenenwelt abgesehen, als wir
Kinder waren. Wenn wir als junge Menschen weinten, stürzten die
anderen herbei und nahmen sich unseres Schmerzes an. Was aber
bedeutet: Sie nahmen uns die Oberhoheit über unseren Schmerz.
Anscheinend konnten sie nicht ertragen, dass unsere Tränen flossen,
und sie mussten etwas dagegen unternehmen.
Unsere Tränen gehörten
nicht uns. Sie waren etwas Beängstigendes für die anderen. Und wenn
wir verzweifelt waren, wurde alles mögliche in Szene gesetzt, damit
wir wieder froh wurden. Unsere Verzweiflung wurde nicht als Realität
akzeptiert, sondern sie wurde wie ein Schmutzfleck weggeputzt.
Wir
wussten um den Wert der Tränen und Verzweiflung von damals. Sie
waren offene Tore zu uns, Rufe, uns selbst, so wie wir wirklich
waren, zu erkennen. Sie waren keine Aufforderung, herbeizustürzen
und von unserer Wirklichkeit, die sich energievoll Bahn brach,
abzulenken. Doch im Ablenken waren unsere Erwachsenen geübt, denn
sie kannten dies ja aus ihrer eigenen Kindheit: dass ihre Erwachsenen
lamentierten, aggressiv reagierten, daherkamen mit gutgemeintem
„armes Kind“, listigen Beruhigungsmanövern, „ist doch nicht so
schlimm“.
Es ging darum, ihre Ruhe und Ordnung
wiederherzustellen. Unsere Tränen waren letzte Versuche, in das
Chaos der Erwachsenenwelt die Wahrheit und Weisheit unserer Ordnung
zu tragen, die von der Einmaligkeit und Würde der Person kündet.
*
Wenn jemand – sei es
ein junger oder erwachsener Mensch – in meiner Gegenwart weint, bin
ich nicht aufgeschreckt in hilfloser Dramatik. Ich kann mit Ruhe,
Konzentration, Wärme, ohne Worte, still und energievoll einfach da
sein. „Ich bin da. Ich stehe auf Deiner Seite. Ich mag mich –
selbst. Ich mag auch Dich. Ich habe Kraft, Dir zuzuhören. Deine
Tränen verletzen und beunruhigen mich nicht. Ich kann sie Dir
lassen. Nichts muss zerstört werden. Ich höre Dich aus der Tiefe in
mir. Ich bin Dir nah.“
Meine Reaktion auf die großen
Emotionen der anderen sind geöffnete Tore auch bei mir, ich kann mir
selbst begegnen. Die Nähe des Weinenden zu sich und die Nähe des
Zuhörenden zu sich sind für uns beide hilfreich: Wir spüren, dass
wir jetzt einander sehr nah sind, dass unser jeweiliges Selbst viel
intensiver in Erscheinung tritt als sonst. Und von dieser intensiven
Basis aus sehen wir in unsere Herzen.