Dienstag, 24. Oktober 2017
Vom Jaulen und der Harmonie, II
Und wie er da so vor mir mit der Jaulerei anfängt, der kleinen, die
so unbestimmt ist für meine Ohren, da höre ich auf einmal das
ganze Recht dieser Töne. Er sagt es. »Mir passt etwas nicht«. Und
ich verstehe ihn, so wie ich mich immer verstanden habe, wenn ich
in mir dieses Unbehagen an den Millionen Dingen spürte. Nur, und
da ist der grandiose Unterschied, dass er so einfach dahinter steht,
so reinen Herzens. Mir gehen die Augen auf. Ein Mensch merkt sein
Unbehagen, nimmt es ernst und teilt es mit. Ich bin dabei und be-
komme es anvertraut. Es ist gar nicht mehr wichtig, was es konkret
ist. Mich berührt, dass dies alles überhaupt stattfindet: das Merken,
das Dazustehen, das Ausdrücken, das Anvertrauen.
Ich nehme ihn auf den Arm. Ich sage nichts. Ich weiß immer noch
nicht, was er hat. Ich merke sein Unbehagen, und sage zu diesem
Unbehagen klar und deutlich und ohne Worte »Ja«. Was heißt:
Anerkennung der Realität, Akzeptanz der Missbilligung, des Un-
behagens. Und ich erkenne, dass ich zu allen Millionen Unbehag-
lichkeiten meines Lebens ebenso klar und deutlich »Ja« sagen kann.
Was ja ein »Nein« bedeutet: »Ich will das eigentlich nicht haben in
meinem Leben. Ja – ich will das nicht haben.« So ist das!
Und dann fällt mir gleich der nächste Schritt ein. Wie wäre es, wenn
ich damals mit 6 Jahren mein Unbehagen so ausgedrückt hätte, wie
Corbinian das heute tut? Ich meine: was hätte ich mir dann gewünscht,
von den anderen, meinen Großen damals? Ich hätte mir ihre Frage,
Aufmerksamkeit, Einfühlung gewünscht: »Was willst Du denn eigent-
lich? Was brauchst Du denn? Womit kann ich Dir helfen«. Einfach mal
schauen, was dieses Kind so will, wünscht, braucht. Mich gefragt und
gesehen fühlen. »Wer bist Du, Kind?«
»Was brauchst Du denn, Corbinian?«, sage ich. Was immer auch jetzt
kommen mag, ich muss es ja nicht alles tun. Ich kann auch nicht alles
tun. Und ich will auch nicht alles tun, was die Kinder von mir so wollen.
Aber ich kann ja mal sehen, was anliegt, vielleicht kann ich ja doch.
Erst mal sehen. Erst mal fragen, erst mal den anderen Menschen be-
merken: »Was willst Du? Wer bist Du? Was kann ich für Dich tun?«
Es macht mich glücklich, dass ich auf mein Kind so zugehen kann.
Dass ich ihn auf dem Arm nehme und ihn frage. »Was brauchst Du
denn?« Ich fliege durch die Jahre zurück, in sein Alter, und alle die
Millionen hingenommenen Unbehaglichkeiten streife ich dabei, und
ich sage ihnen, dass sie keine Schandflecken auf meiner Seele waren,
sondern Lichtzeichen meines Selbst, Signale, die mich selbst und die
Welt um Hilfe riefen. Ich bin alt, Corbinian ist jung. Man muss das
alles nicht endlos wiederholen, denke ich mir, diesen verstellten Weg.
Ich kann Corbinian als Piloten nehmen,der sich im All des Seltsamen
und Unbehaglichen noch auskennt. Und so kümmere ich mich um ihn,
und damit um mich, und sein »Ich will jetzt gar nicht laufen«, was dann
leise kommt, lässt mich jauchzen: Dann trage ich dich eben, auf dem
Arm, hier, zum Einkaufen. »Du musst auch nicht laufen«. Da wird er
wieder fröhlich. Und dann will er wieder runter. Und läuft. Und der
Schatten ist vorbei.
Fortsetzung folgt.