Dienstag, 18. Oktober 2016

Du gibst Deine Ziele auf?

Ich höre weiter den beiden Einjährigen zu und übersetze. Luca und Paul sitzen auf ihrer Krabbeldecke und fachsimpeln. Über Konflikte mit ihren Eltern. Luca hat erzählt, dass er tut, was seine Mutter will - wenn er merkt, dass ihr Anliegen mehr Gewicht hat als seins. Aber was ist, wenn ihre Wünsche gleich dringlich sind?

Paul: Was machst du, wenn Dir etwas genauso wichtig ist?
Luca: Dann seh ich zu, dass passiert, was ich will.

P  Auch wenn Du merkst, dass es Deiner Mutter wichtiger ist?
L  Wenn meine Dringlichkeit zu 100 Prozent gegen ihre Dringlichkeit
     steht, sorge ich für mich.
P  Da hast Du keine Chance. Erwachsene sind immer überlegen.
L  Nein. Sie können nur die Hälfte aller Konflikte gewinnen.
P  Aber sie haben Macht.
L  Nicht nur sie. Sie haben Muskelkraft, Geld und intellektuelle
     Überlegenheit. Aber wir sind oft stärker: durch unsere
     psychologischen und psychosomatischen Machtmittel.
P  Du meinst unsere Emotionen und Töne?
L  Ja. Wenn Du die richtigen Gefühle ansprichst und genau die
     Frequenzen raushast, die zu Deiner Mutter passen, lässt sie Dich
     machen.
P  Meine Mutter nennt das Quengeln, Nörgeln, Jaulen, Heulen...
L  Hör auf, das ist die diskriminierende Sprache der alten Zeiten.
     Meine Mutter würde nie so von mir reden.
P  Weil sie merkt, dass Du nicht gegen sie, sondern für Dich bist.
L  Ja, das ist sehr entscheidend. Meine Machtmittel setze ich nie
     gegen sie ein, sondern nur für mich. Da muss sie sich nicht mit
     Diskriminierungen verteidigen.
P  Ihr habt einen ehrlichen Kampf. Von König zu König.
L  Mir kommt Autorität zu, ebenso wie ihr. Das kommt aus der
     Liebe zu uns selbst und ist nie gegen andere gerichtet.   
P  Du hast eine Königsbeziehung.
L  Ja.
P  Ich habe eine Erziehungsbeziehung. Erzieher oben, Zögling unten.
     Verschleiert als demokratisch-partnerschaftliches Verhältnis.
L  Es gibt auch eine Partnerschaft zwischen Herrscher und Sklave.
P  Es ist nicht wirklich von Gleich zu Gleich.
L  Weil sie meint, dass Du noch kein richtiger Mensch bist.
     Sondern erst einer werden musst. Durch Erziehung.
P  Geh mal in eine Universität und hör Dir an, was da über Kinder
     gelehrt wird.
L  Ich weiß, Pädagogik.

L  Ich kann mich aber oft genug auch nicht durchsetzen.
P  Und was machst Du dann?
L  Na, nicht das, was ich wollte.
P  Ich meine es nicht auf der Handlungsebene. Wie fühlst Du Dich
     dabei?
L  Also...
P  Wenn meine Mutter sich durchsetzt, geht es mir ganz schlecht.
     Erstens kann ich nicht tun, was ich will. Handlungsebene. Das
     ist schlimm genug. Aber dann kommt noch ihr "Sieh das ein"
     und "Ich habe recht" und "Es ist für Dich besser so". Diese
     Selbstverständlichkeit, diese Arroganz, diese Finger in meiner
     Seele!
L  He, beruhige Dich. Sie ist nicht da. Ich versteh Dich. Es ist
     schrecklich, wenn Erwachsene so drauf sind.
P  Am schlimmsten ist, dass sie nichts, absolut nichts davon merkt,
     was bei mir abläuft. An Selbstwertzweifeln. Und Schuldgefühlen.
     Weil ich wieder etwas verkehrt gemacht haben soll.
L  Das kann sie nicht merken, weil sie voll bester Absicht ist. Sie
     liebt Dich. Sie meint, dass sie Dir etwas Gutes tut, wenn sie sich
     so um Deine Einsicht bemüht. Ihr fehlt das Bewußtsein, etwas
     Unrechtes zu tun.
P  Wie geht es Dir, wenn Deine Mutter sich durchsetzt?
L  Ich ärgere mich. Oder ich bin wütend. Das ist aber ziemlich
     schnell vorbei. Aus meiner Wut wird kein Hass.
P  Weil sie es für sich und nicht gegen Dich tut
L  Ja, irgendwie merke ich das immer. Und was soll ich mich lange
     über etwas aufregen, das doch nicht zu ändern ist?
P  Du gibst Deine Ziele auf?
L  Nein. Ich bin nur realistisch. Ich kann Niederlagen akzeptieren.
P  Du fühlst Dich nicht schlecht dabei?
L  Es sind Niederlagen meines Tuns, nicht meines Werts, vergiß das
     nicht. Mein Wert wird von meiner Mutter nie angegriffen.
P  Ich fühle immer, dass auch mein Wert herabgesetzt wird. Ich muss
     immer besser werden.
L  Trotzdem will ich meine Ziele erreichen. Was jetzt nicht geht, geht
     vielleicht später.
 
P  Woran hältst Du zum Beispiel fest?
L  Am Süßkram. Das gebe ich nicht auf. Sie ist voll dagegen. Aber
     es schmeckt einfach! Und sie glaubt bestimmt ihr Leben lang, dass
     das ungesund ist.
P  Gibt es bei Euch deswegen dann nicht dauernd Streit?
L  Streit trifft es nicht. Hast Du beim Süßkram Streit?
P  Jedesmal. Und immer diese Nörgelei, dass ich das einsehen soll und
     dass sie recht hat und nur mein Bestes will. Und neuerdings diese
     "Gespräche".
L  Was für "Gespräche"?
P  Sie ist modern. Sie liest solche Bücher, geht in Kurse und Seminare
     und lernt, was die beste Methode für den Umgang mit Kindern ist.
     Da sind "demokratisch-partnerschaftliche" Gespräche angesagt,
     auf Augenhöhe, mit Ich-Botschaften. Mit allen psychologischen
     Tricks.
L  Von Erzieher zu Zögling, von oben nach unten. Die Methoden werden
     raffinierter, nichts ändert sich wirklich.
P  Nein. Es ist nicht wie bei Dir von Gleich zu Gleich.
L  Unser Konflikt ist offen und klar, ohne Tricks und Manöver. Ich sehe
     oft, dass ihre Sicht besser passt, und kann dann zustimmen. Aber bei
     anderen Sachen eben nicht, wie beim Süsskram. 
P  Und?
L  Ich ändere mich nicht, sie ändert sich nicht. Das ist kein Drama. Es ist
     eher ein bisschen komisch.
P  Du siehst so etwas mit Humor?
L  Warum nicht?
P  Wenn sie Dir keinen Süßkram lässt?
L  Ich werd auch ohne sie schon noch drankommen.
P  Ach so.
L  Aber das ist nicht der Punkt.
P  Sondern?
L  Sie lässt mir keinen Süßkram, aber sie lässt mir meine Innere Welt,
     und zwar immer. Sie tastet meine Selbstachtung und meinen Wert
     nicht an.
P  Du kannst ihrer Meinung nach ein Süßkram-Fan sein?
L  Ja. Sie weiß, dass ich so jemand bin. Sie achtet das.
P  Und nimmt Dir trotzdem den Süßkram weg?
L  Ja. Das ist kein Widerspruch.
P  Sie sorgt für sich selbst und will Dich nicht ändern.
L  Wir tun beide im Grunde dasselbe. Jeder sorgt für sich und tastet
     dabei die Würde des anderen nicht an. Das ist ein sehr
      verbindendes und verlässliches Gefühl, gerade bei meinen Niederlagen.

P  Meine Mutter will, dass ich dem Süßkram abschwöre.
L  Sie will ihn Dir nicht nur konkret wegnehmen?
P  Ich soll auch einsehen, dass Süßkram schlecht ist. Und dass ich
     schlecht bin, wenn ich Süßkram will.
L  Sie will Dich erziehen.
P  Ja.
L  Kultureller Imperialismus.
P  Was macht Deine Mutter? Gibt sie ihren Wunsch auf, dass Du
     Süßkram ablehnst? Dass Du Dich änderst?
L  Nein, sie gibt ihre Wünsche nicht auf. Aber sie ist auch ganz
     realistisch. Sie kennt meine Einstellung. Die respektiert sie, wenn
     sie auch hofft, dass ich meine Meinung mal ändern könnte.
P  Könntst Du?
L  Bei Süsskram? Kann ich mir nicht vorstellen. Aber möglich ist
     alles. Mich drängt ja keiner. Ich kann es mir jederzeit überlegen.
P  Bei Dir ist alles so unproblematisch.
L  Also, Probleme habe ich auch.
P  Aber sie sind leicher. Niemand geht Dir an die Seele.
L  Die Achtung vor unseren Inneren Welten ist immer präsent.
     Dieser Fluss wird nicht beeinträchtigt. Das ist schon sehr
     entspannend.
P  Es kommt mir wunderschön vor.
L  Ich wünsche Dir das auch.