Montag, 3. Oktober 2022

Petra, zehn, selbstbewusst - vor 80 Jahren


 

Neulich fand ich im Regal ein altes Kinderbuch von der norwegischen Schriftstellerin Barbara Ring (1870-1955): "Petras Reise"*. Es geht um zwei Mädchen, Petra und Ulla, zehn und neun, die mit Petras Großvater von Norwegen nach Kopenhagen fahren. Eines Tages fährt Petra mit ihrer Cousine Ullla allein zum Theater, sie wollen einen Schauspieler besuchen, den sie am Abend vorher im "Sommernachtstraum" bewundert haben.

Als sie endlich zurückkommen, kriegen sie was zu hören. Der Großvater ist echt sauer. Genau so wie der Vater von Ulla, bei dem sie in Kopenhagen wohnen. Ullas Mutter ist dort gerade im Krankenhaus.

Ich hatte mir das Buch vorgeholt und war wirklich erstaunt, wie Barbara Ring vor 80 Jahren das Mädchen in der Szene darstellt. Ich bin beeindruckt, und will das Gespräch vom erzürnten Großvater und dem nicht minder angefassten Vater von Ulla mit Petra gern wiedergeben.

*

Da rief Großvater plötzlich glückstrahlend: „Sie kommen! Da, seht, da!“

Da kamen sie im Eilmarsch über den Platz. Petra voran, und Ulla, sich krampfhaft an ihrem Kleide festhaltend, hinterher.

Wie der Sturmwind ging's – an Straßenbahnwagen vorbei, zwischen Autos, Wagenrädern und Pferdehufen hindurch, so dass Großvater vor Angst beinahe das Herz stillstand.

Ullas Vater kam ihnen entgegen und nahm eine an jede Hand.

Wie konntet ihr nur so etwas tun und uns so furchtbar erschrecken?“ zankte er. „Nun ist es zu einem Besuch bei Mama fast zu spät.“

Ulla begann sofort laut zu heulen.

Natürlich bist einzig und allein du auf diesen unmöglichen Gedanken gekommen“, sagte er böse, zu Petra gewandt.

Jawoll“, erwiderte Petra seelenruhig.

Du bist ein schreckliches Kind!“ fuhr Ullas Papa streng fort. „Schäme dich, den alten, guten Großvater so in Angst zu versetzen!“

Bist du wirklich bange gewesen, Großvater? Du wusstest ja, dass ich mit war und auf sie aufpasste“, sagte Petra.

Und sie blicke mit großen, zuversichtlichen Augen zu Großvater empor. Es fiel ihr keinen Augenblick ein, dass man sich auch um eine andere als um Ulla geängstigt haben könnte.

Es war aber nicht Pe- Petras Schuld, sie sagte, ich sollte zu Hause bleiben“, schluchzte Ulla.

Doch, ich hatte Schuld“, sagte Petra. „Aber das ist ja nun ganz einerlei, wir sind ja nun glücklich wieder hier.“

Nein, das ist nicht einerlei, meine liebe Petra“, erklärte Großvater. „Ich verbiete euch auf das Strengste, je wieder allein einen Fuß auf die Straße zu setzen.“

Du hattest es aber nicht verboten“, sagte Petra.

Nein, denn ich glaubte, ihr wäret groß und vernünftig genug, um das selbst einzusehen.“

Ja, du weißt ja, dass ich zu Haue immer so allein losgehe“, sagte Petra mit unverwüstlicher Ruhe.

Mag sein. Hier ist dir das aber nicht erlaubt, hast du verstanden? Wo seid ihr übrigens gewesen?“

Wir waren bei Puck. Es war aber nur Beschummelei, denn er war eine Dame. Und seine Haut hing in einem Schrank. Deshalb gingen wir gleich wieder weg; aber wir kriegen sein Bild, und sie soll unseres haben, und sie sagte, das machte nichts, wenn du da mit drauf wärst, Großvater."

Ihr seid im Theater gewesen? Und habt einer fremden Schauspielerin mein Bild versprochen?“ fragte Großvater entsetzt.

Nee, nicht deines, unseres! Aber es mache nichts, dass du da mit drauf wärst, verstehst du wohl?“ sagte Petra, ohne sich anfechten zu lassen.

Großvater aber schüttelte den Kopf und fasste in seinem Innerem den Beschluss, dass aus dem Fotografieren „mit ihm da drauf“ nichts werden sollte...



* Barbara Ring, "Petras Reise. Stuttgart 1939. S. 58ff.