Montag, 10. Oktober 2022

Paten

 

 

Meine Vorträge halte ich vor Eltern, aber es gibt Ausnahmen. Jetzt wurde ich von Menschen eingeladen, die als Pate einmal in der Woche für einige Stunden mit einem Grundschulkind Zeit verbringen. Über Monate und Jahre, Beziehungen bauen sich auf, ein großes Engagement. Ich bin gerne zu ihnen gefahren und hielt meinen Vortrag. Aber ich merkte im Lauf des Abends, dass es diesmal irgendwie anders war als sonst.

Zunächst einmal erinnerte mich die Patenschaft an meine Forschung, als ich herausfinden wollte, ob „unterstützen statt erziehen“ funktioniert (was es tat). Dabei traf ich mich wie die Paten auch einmal in der Woche mit Kindern einen Nachmittag lang, und wir unternahmen das, was sich so ergab. Ich war damals also wie die Paten nicht als Eltern/Vater unterwegs und erlebte die Kinder als „Gast im Kinderland“.

Nach dem Abend ging mir durch den Kopf, dass die Paten ja genau so wie ich damals nicht in die Eltern-Kind-Beziehungen verstrickt sind und viel mehr Spielraum für die Kommunikation haben. Unbeschwerter, offener, verletzungsfreier. Mit großer Chance auf ein Vertrauen, das die Kinder nicht unbedingt ihren Eltern entgegenbringen. Aber Paten.

Die Thematik „Würde“ und „Achtsamkeit“ ist für die Paten kein großes Thema. Sie engagieren sich ja gerade deswegen, um die Würde der Kinder zu stützen und um ihnen bedingungslose Achtsamkeit zu schenken. Mit „Würde“ und „Achtsamkeit“ sind sie vertraut, das können sie. Ich zeige an den Abenden einen bestimmten Weg dorthin. Den Weg, den ich herausgefunden habe und den ich „unterstützen statt erziehen“ nenne.

Ich denke, dass ich an einem Punkt nicht aufgepasst habe. Die Paten hörten mich dauernd von etwas sprechen, was ihnen ein selbstverständliches Anliegen ist: Würde und Achtsamkeit. „Was will er denn eigentlich? Das machen wir doch längst!“ war die Stimmung. Die ich zwar mitbekam, aber nicht merkte, wieso da so ein Unverständnis war.

Ich sprach sie eben als Eltern an. Die sie heute Abend aber nicht waren: Als Eltern, die mit Würde und Achtsamkeit ein großes Problem haben und die mir da sehr genau zuhören. Sie aber waren Erwachsene, die die Würde- und Achtsamkeitsproblematik nicht haben – sie realisieren Würde und Achtsamkeit an den Nachmittagen mit den Kindern. Was bei den Eltern in ihrer Alltagsverstrickung und ihrem Alltagsstress mit den immer eben auch anstrengenden bis sehr anstrengenden Kindern schon ein großes Thema ist.

Da habe ich die Paten verfehlt. Ich hätte ihnen verdeutlichen können, dass es bei aller gelebter Würdesicht und Achtsamkeit noch etwas zu entdecken gibt. Dass bei aller Würde und Achtsamkeit die Gleichwertigkeit entweder fehlen oder dabei sein kann: Die Begegnung von Souverän zu Souverän. Man kann ja auch gutmeinend und liebevoll, würdewahrend und achtsam sein und dennoch gleichzeitig von oben nach unten mit den Kindern umgehen. Motto “Bei aller Würde und Achtsamkeit – Du bist ein Kind, wirst erst ein vollwertiger Mensch, und ich bin (auch in diesen wenigen Stunden) für Dich verantwortlich. Das kannst Du noch nicht selbst sein. Ich weiß besser als Du, was für Dich gut ist.“

Oder man ist als Pate eben nicht von oben nach unten mit den Kindern unterwegs, sondern amicativ, postpädagogisch, jenseits der Erziehung. Liebe, Würde, Achtsamkeit ohne subtile pädagogische Herabsetzung mit all den destruktiven Folgen.  „Was soll denn das sein?“ – diese Frage und Fragehaltung und Neugier waren nicht im Raum. Und ich war nicht sensibel genug, das unausgesprochene Unverständnis gut zu handhaben. So habe ich mich zwar mit Nachdruck bemüht, den Paten klarzumachen, was ich eigentlich im Sinn habe – aber meine Bemühungen rauschten an ihnen vorbei. Weil ich den Anknüpfungspunkt verpasste.

Die Liebe, Würde, Achtsamkeit ist in meinen Vorträgen nicht das wirkliche Thema. Sondern die Gleichwertigkeit und Souveränität. Auch Herr Taliban liebt seine Frau, sieht ihre Würde und ist achtsam – aber gleichwertig und souverän? „Das ist sie nicht.“ Sehen die Paten die Kinder gleichwertig und souverän?

Na ja, hätte hätte Fahrradkettte... Es gab am Schluss jedenfalls Beifall – aber ich hatte diesmal nicht so ein gutes Gefühl wie sonst und kam auf der Rückfahrt ins Grübeln. Außerdem: man weiß ja nie, was letztlich passiert. Im Leben und bei so einem Vortrag. Eine Patin freut sich doch auf mein neues Buch*, das ich ihr schenken will – um alles noch einmal nachlesen zu können...




* Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“. Ab November 2022