Montag, 18. November 2019

Glücksfähig







"Wenn er sich partout nicht die schmutzigen Gummistiefel auszieht, was soll ich dann machen?" Eine Praxisfrage auf dem letzten Vortrag, der Junge ist fünf, und die Mutter klingt ratlos bis verzweifelt. Auf der Fahrt vom Vortrag nach Hause denke ich an und in eine andere Ebene als Praxis. Praxis: Ja, da geht es um das Sich-Durchsetzen, sanft oder hart, entspannt oder angestrengt. Ich habe aber etwas anderes im Sinn.

Die Gedanken der Mutter sind eingefangen, ja eingesperrt bei der Nicht-Lösung. Problem. Wie kommt sie da gut raus, ohne dass es ein Riesentheater gibt? Sie weiß es nicht, es gibt Theater, und sie hängt da fest. Was sie nicht mehr im Blick hat, worüber sie nicht nachdenkt, was nicht mehr auftaucht: All das Schöne und Harmonische, das hinter der Lösung des Problems wartet. Also mit ihrem Kind in guter Atmosphäre Abendessen, Buch vorlesen, ins Bett bringen, Gutenachtkuss, Lichtausmachen. Sie ist gebannt von der Nicht-Lösung, Leid ist angesagt, Freude nicht in Sicht.

Ich übertrage das ins Allgemeine. Wenn man einen Stein in seinem Weg hat, dann ist er nicht nur das konkrete Steinproblem hier und jetzt, dann kappt er auch die Verbindung zu all den schönen Erlebnissen, die jenseits des Steins warten, zu all den Freundlichkeiten und Sonnenstrahlen. So ein ungelöstes Problem ist eine Wolke, die sich vor die Sonne schiebt.

So ist es. Und jetzt kommt das, was mir - für mich und meine Steine - durch den Kopf geht: Ich lass den Stein mal Stein sein, die Gummistiefel mal Gummistiefel - ich spring davon weg und hinein in die Welt, die danach kommt. So, als gäbe es das konkrete Problem nicht. Ich wende mich der hellen Seite zu und lass mir von der dunklen Seite nicht den Tag verderben. Die Freude, die ja so eine große Kraft ist, in mir und in meiner Welt, ich öffne mich für diese Imagination. Das ist jenseits des Verzagens, jenseits des Bekümmertseins. Es ist magische Schönrednerei.

Wieso gehört das nicht zum Standard bei Problemen, bei schwierigen Problemen, bei ekligen Problemen? Man könnte doch da auch aussteigen und mit einer überwältigenden Lockerheit unterwegs sein. Einer Lockerheit und Fröhlichkeit, die da sind, wenn und weil der innere Blick, die seelische Konzentration ganz woanders hingeht als zum Stein, dreckigen Gummistiefeln. "Ist doch nicht so schlimm, davon geht doch die Welt nicht unter.. " - die Sprüche sind bekannt, und hier passen sie.

Dann wird das Auto eben erst morgen repariert. Dann ist die Uhr halt verlegt. Dann bleiben die Gummistiefel meinetwegen dran. Und die großen Probleme? Der Partner will gehen? Es ist Krebs? Untersuchungshaft wird angeordnet? Ja mei. Ist "don't worry, be happy" die Lösung? Möglich ist das. Und wenn es möglich ist, sich die Freude nicht nehmen zu lassen, dann muss ich sie mir auch nicht nehmen lassen! Die Freude, auf der Erde zu sein - mal ganz groß angesetzt. Der große Ansatz, der ist es. Ich bin vom Leben willkommen geheißen, eingeladen durch meine Geburt. Das ist jeder. Und das ist doch so voll Halleluja, dass die Gummistiefel, der Krebs und all der ganze andere Steinekram zwar nicht übersehen werden, aber nicht an die Macht kommen. Sie übernehmen nicht das Kommando. Ich gehöre mir, nichts anderes gilt, und es liegt an mir, ob ich das Bestimmen über mich an Gummistiefel oder den Krebs abgebe und mich ihnen ausliefere. Oder eben nicht.

*

In unserer Kultur sind wir so voller Sorge, so dass diese Leichtigkeit und Fröhlichkeit des Seins sehr schnell vergessen werden. Wie kommt das? Die ganze Sorgerei beginnt in der Kindheit, im Umgang der Erwachsenen mit den Kindern und dem daraus entwickeltem Umgang der Kinder mit den Problemen. Die Gummistiefel sind das Beispiel. Aber natürlich geht es auch anders. Zwei Blicke in die indianische Welt, auf einen anderen Umgang mit den Kindern:

   Eingeborene Kinder sind freie Wesen, mit dem Recht, ihr Schicksal selber zu bestimmen. Europäische Kinder sind leere Behälter, in die die Maßregeln der Eltern gefüllt werden, oder die von repressiven Schulen geduckt werden. Gerade im Verhältnis zur Erziehung werden die Unterschiede des europäischen und indianischen Denkens offensichtlich. Die Weißen sagen "Ich erziehe ein Kind" oder "Ich ziehe ein Kind auf" - der indianische Standpunkt ist mehr "Ich werde mit dem Kind leben".*

   Fürsorge wird, ebenso wie Unterstützung, nur auf Verlangen gewährt. Nahrung für den Körper und Umarmen als Nahrung für die Seele werden weder angeboten noch vorenthalten, sie werden jedoch stets, einfach und anmutig, als Selbstverständlichkeit zur Verfügung gehalten. Vor allem wird die Persönlichkeit des Kindes in jeder Hinsicht als gut respektiert. Weder gibt es den Begriff eines "unartigen Kindes", noch wird umgekehrt irgendeine Unterscheidung hinsichtlich "braver Kinder" getroffen. Es wird angenommen, dass das Kind in seinen Motiven in Übereinstimmung, nicht im Gegensatz zur Gesellschaft steht. Was immer es tut, wird als Handlung eines von Geburt an "richtigen" Geschöpfes anerkannt.**

"Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit" heißt der Untertitel des Buches von Jean Liedloff, aus dem ich zuletzt zitiert habe. Zerstörung der Glücksfähigkeit? Dagegen lässt sich etwas tun, dagegen tue ich etwas. Erst mal den Problemen, den großen und den kleinen, einen angemessenen Platz zuweisen: "Sitz, Platz, Aus!"




* Aus der Welt nordamerikanischer Indianer. In: Uwe Stiller, Das Recht, anders zu sein. Traditionelle Alternativen des indianischen Amerika. Berlin 1977, S.34 u. 41. Uwe Stiller zitiert hier einen indianischen Autor.
** Aus der Welt der Yequana-Indianer in Venezuela. In: Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück. Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit, München1984, S. 109 u. 97 f.