Montag, 11. November 2019

Schul-Erinnern







Heute war ich wieder zu unserem Klassentreffen. Klar haben wir über die alten Zeiten geredet, eben Erinnerungen ausgetauscht. Es war schon interessant, was den anderen wichtig war und was ich nicht mehr wusste, und umgekehrt. Als ich nach Hause fuhr, dachte ich darüber nach, wie das so ist mit dem Erinnern. Ich kenne zig Abhandlungen darüber, aber was ist mir wichtig in Sachen Erinnern?

Ich bin mein eigener Chef, so heißt es in der Amication. Auch beim Erinnern? Das entzieht sich meiner Souveränität, die Erinnerungen führen ein Eigenleben, machen, was sie wollen. Nun gut, wenn dem so ist. Mein Chefgefühl kommt ins Spiel bei der Frage, wie ich mit meinen Erinnerungen umgehe. Das ist so wie mit dem Herzschlag, der einfach stattfindet. Mir bleibt dann der Rest: wie will ich damit umgehen? Das Herz so schlagen lassen, wie der Arzt rät? Oder drauflos agieren, egal was der Arzt dazu sagt? (Mein Herz ist ok, das ist ein Beispiel.)

Ein Beispiel dafür, dass das Chefgefühl nicht allmächtig ist, sondern nur dort ins Spiel kommt, wo es überhaupt ins Spiel kommen kann. Der Sonne ist es egal, ob es Chefgefühle gibt oder nicht. Aber wie ich mit der Sonne umgehe (Sonnenbaden oder Schatten aufsuchen), das ist meine Sache. Und da hat das Chefgefühl etwas zu sagen, auch bei Sonne und Co, auch bei der Erinnerung, auch bei meiner Erinnerung.

Ein Klassenkamerad hat als Lehrer gearbeitet. Wir haben gefachsimpelt, schließlich war ich ja auch ein Jahr lang Lehrer, Klassenlehrer und Vertrauenslehrer. Er hat das schon gut gemacht, Sprechstunden für Schüler eingeführt und persönlichen Kontakt hergestellt. Auf der Rückfahrt ging mir dann die Passage aus einem meiner Bücher durch den Sinn, in dem ich sehr grundsätzliche Fragen an die heutige Schule stelle. Und an die heutigen Lehrer und Lehrerinnen. Ich habe die Passage dann zu Hause gleich rausgesucht*:

"Und Ihre Erinnerung? Waren Sie nicht selbst Schulkind? Wurde mit Ihnen nicht ebenso verfahren? Waren die damaligen Schmerzen und psychischen Verletzungen denn berechtigt? Haben Sie nicht gelitten? Ist das Leid von damals zu groß, um heute zu erkennen, dass Sie selbst derjenige sind, der dies den heutigen Kindern zufügt? Ist das alles Wiederholungszwang, Wahnsinn, Schicksal?"

Wir sollen die Erinnerungskultur pflegen, heißt es. Ja, in großen politischen Zusammenhängen. Aber so ein Impuls/Impetus gilt für mich eben auch in Bezug auf die Schulwelt. Die jeder durchlebt und hinter sich gebracht hat. Und wenn sich da nichts mehr erinnern lässt? Sich nichts mehr erinnern will? "War doch alles nicht so schlimm...". Nun ja, meine Erinnerungen gehören zu mir, gehören mir. Sie sind ein Teil von mir, sie machen mich aus. Woran erinnere ich mich? Woran erinnern sich meine Klassenkameraden?

Die Freunde erinnerten sich an vieles, an das ich mich nicht erinnere. Ich wiederum erinnere mich an etwas, was ihnen nicht präsent ist. Jedenfalls nicht in der Tiefe und Tragweite, in der sich das bei mir gemeldet hat. "Schule ist Kindesmisshandlung und missachtet das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit" - das hatte ich mir einst hinten in meine Autoheckscheibe geklebt. Wer weiß davon und wer erinnert sich an so etwas Grundsätzliches? Mich hat diese Erkenntnis nicht losgelassen, sie hat sich gemeldet und mich angetrieben. Amication hat viele Quellen, eine ist die Erinnerung an die Unterdrückung der Schule, an das Unrecht, das uns Kindern durch die Schule widerfuhr.

Mein Klassenkamerad war Lehrer - wie ich. Er hat sich um die Kinder gekümmert - wie ich.  Von ihm, dem Lehrer, gingen Menschenrechtsverletzungen aus - wie von mir, dem Lehrer. Weiß der darum ? Erinnert er sich? Ich habe ihn nicht gefragt.

Aber er erinnerte sich gut daran, wie unwürdig er damals als Kind behandelt wurde. Und er hat es als Lehrer besser gemacht. Nur: die strukturelle Missachtung der Menschenrechte junger Menschen durch die Schule, die wir beide als Lehrer und Garanten der Schulstruktur realisierten, ist sie in seiner Wahrnehmung und Erinnerung? Gedankenfreiheit? Meinungsfreiheit? Freizügigkeit? Körperliche Unversehrtheit? Das, was hinter den persönlichen Herabsetzungen manifest ist? Gibt es davon ein Bewusstsein? Erinnert sich jemand?

(Zum Wachrufen eignen sich meine Posts vom 12., 14. und 17.12.2016.)




*Schule mit menschlichem Antlitz, Münster 2001, S. 32