Montag, 9. September 2019

Unteilbare Diversität





Die vielfältigsten Gruppen treten heutzutage auf den Plan und werden beachtet. Erst einmal wird bemerkt, dass es sie überhaupt gibt, und dann wird ihnen Verständnis und Wertschätzung entgegengebracht. Ich reibe mir die Augen, was sich da alles so tummelt - aber klar, jede Gruppe hat ihre Berechtigung, und ich denke ihnen Aufmerksamkeit und Achtung zu. Als Beispiel zeige ich mal die dritte Geschlechternennung (bei Stellenanzeigen und anderswo): "d" steht für divers, "i" für intersexuell, "a" für anders, "x" für egal welches Geschlecht bzw. nicht definiert, "gn" für geschlechtsneutral. "*" für einen Platzhalter oder eine Fußnote. Nach meinem "ja Leute gehts noch" kommt dann in mir "klar geht es".

Ich schau mich bei Wikipedia um:

"Diversität ist ein Konzept der Soziologie und Sozialpsychologie, das in der deutschen Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft analog zum Begriff Diversity im englischsprachigen Raum für die Unterscheidung und Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen benutzt wird. Häufig wird der Begriff Vielfalt anstelle von Diversität benutzt. Diversität von Personen – sofern auch rechtlich relevant – wird klassischerweise auf folgenden Ebenen betrachtet: Kultur (Ethnie), Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung, Religion (Weltanschauung). Weniger ins Auge fallen eine große Zahl weiterer sozialisationsbedingter und kultureller Unterschiede wie Arbeitsstil, Wahrnehmungsmuster, Dialekt usw., die die kulturelle Vielfalt weiter erhöhen und kontextabhängig ebenfalls der Aufmerksamkeit und ggf. der sozialen Anerkennung bedürfen."

Da steht zum Schluss: "...die der Aufmerksamkeit und ggf. der sozialen Anerkennung bedürfen." Ok, das kriegen wir - Gesellschaft, mich eingeschlossen - hin, das mit der Aufmerksamkeit und der sozialen Anerkennung.

Ich bin ja nun in Sachen Kinder unterwegs, und schon habe ich das ganze Diversitätstheater am Wickel. Sooo viel Gruppen und Grüppchen erheben ihre Stimme, und zwar zu Recht, wie ich finde. Und eine jede Gruppe will von ihrer Innensicht her gewürdigt, verstanden und geachtet werden. Auch wieder zu Recht, wie ich finde.

Ich deklinier das mal durch: Wie denkt und fühlt ein Homosexueller, AfD-Mensch, Samoaner, IS-Kämpfer, Balletttänzer, undundund? Wie ist er unterwegs, wie sieht er die Welt? Wie komme ich mit so jemandem klar und in Kontakt und in guten Kontakt? "Wer bist Du?" Und davor/dagegen/dabei: "Wer bin ich?" Oft und immer wieder: Ich bin da jemand anderer als Du, klarer Unterschied. Aber es verbindet mich mit Dir die Achtung und Wertschätzung.

Ich bin da jemand anderer. Schwule Welt: Ich küsse keinen Mann - wiewohl Du das gern tust. Ich habe Achtung vor Deiner Homo-Welt, auch wenn ich sie nicht teile. Ich küsse Frauen. AfD-Welt: Ich halte Hitler und die Nazizeit für keinen Vogelschiss in der Geschichte - wiewohl Du das so siehst. Ich habe Achtung vor Deiner braunen Welt, auch wenn ich sie nicht teile. Ich verehre Anita Lasker-Wallfisch. Und so weiter. Es gilt für mich und die anderen Gutmeinenden: niemand steht über dem anderen (egal wie der tickt), jeder hat aus seiner Sicht recht (egal wie schrill das für mich ist). Wobei für mich gleiches gilt, auch ich habe aus meiner Sicht recht: Ich rücke von meiner Position nicht ab (ich küsse Frauen, verehre Anita). Und ich setze mich für meine Position ein, auch mit allem Nachdruck, wenn das nötig wird (weise den Schwulen, der mich küssen will, in die Schranken, weise dem AfDler lautstark zurecht).

Wir lernen grade, die anderen, auch die so ganz anderen, aus ihrer Welt her zu verstehen. Vor Zeiten wurde mir das einmal eindringlich bewusst: bei einem Science-Fiktion-Film, in dem zwei erbitterte Feinde zueinander fanden und Freunde wurden: "Enemy Mine", von Wolfgang Petersen 1985. Und, außerdem, weiter Bogen: wir lernen Pferde von ihrer Welt aus zu verstehen, ebenso Hunde und Katzen. Dazu gibt es seit 30 Jahren zig Literatur. Neuerdings Bäume. Der andere, auch der und das so ganz andere: wir nähern uns ihm.

Johann, 8 Monate: "Das da ist doch eine Schweineschnauze". "Geh da weg, das ist eine Steckdose". Diversität? Im Kinderzimmer? Es ist doch eigentlich so einfach.

Ist es eben nicht. Kinder werden nicht im guten Hype der überbordenden Diversität wahrgenommen. Sie sind zum Diversitätsspiel des Lebens nicht zugelassen. In Sachen Diversität hat sie niemand auf dem Schirm. Der diverse Respekt, die diverse Achtung, die diverse Wertschätzung vor der Andersartigkeit - fehlt im Kinderzimmer. Wie damals bei den Schwulen und wie heutzutage oft genug noch bei den AfDlern.

Mit dem Diversitätsgedanken läßt sich doch etwas anfangen! Ich finde ihn einen guten Ansatz, um "den anderen", den pädagogisch orientierten Erwachsenen etwas von den amicativen Dingen zu erzählen. Vom Ende der Erziehung (in unserem konstruktiven Sinn), vom Überwinden des Adultismus, des Erwachsenen-Chauvinismus, des kulturellen Imperialismus, des pädagogischen Inhumanismus, der Menschenformung, der Missionierung, der Erziehung. Ich trage den Diversitätsgedanken ins Kinderzimmer.

Da geht doch was... Achtung vor der Schweineschnauzensicht. Diese Sicht teile ich nicht, ich sehe eine Steckdose. Aber ich höre hin und schwinge mich ein. Auf den Schwulen, den AfDler, das Kind. Ich werde da nicht mitmachen (beim Männerkuss, beim Vogelschiss, bei der Schweineschnauze), aber ich setze das nicht herab, ich setze den anderen nicht herab, ich setz Dich nicht herab, muss Dich nicht belehren, nicht missionieren. Ich habe nicht mehr recht als Du... Ich wische nicht Deine Würdekrone vom Kopf. Schwule, AfDler, Kinder - ein jeder hat diese Krone. Diversität ist unteilbar.