Samstag, 16. Dezember 2017

Schule, grundsätzlich





















Eine Mutter erzählte, dass ihr Sohn (2. Klasse) im Schwimmunterricht
mit einigen Mitschülern auf der Bank neben dem Becken warten muss,
bis der Lehrer mit den anderen Kindern im Wasser fertig ist. Und sie
dann wieder dran kommen und ins Wasser dürfen. Abwechselnd. Er
muss also mit nasser Badehose draußen warten und friert. Das hat
dazu geführt, dass er zweimal nicht zum Schwimmen mitgegangen
ist. Erst jetzt hat er es seiner Mutter erzählt. Sie überlegt, ob sie den
Lehrer zur Rede stellen oder es auf sich beruhen lassen soll.

Das führt mich mal wieder zur Schule, und zwar grundsätzlich. Ich
suche einen Text raus (aus meinem Buch "Schule mit menschlichem
Antlitz"), der dazu passt.

*

Die Schule ist eine Institution, die ganz und gar unabhängig von
uns existiert. Wir sind immer konkrete Menschen, und das heißt
für die Eltern und Kinder: dieser Vater, diese Mutter, diese Kinder.
Unabhängig von uns als Familie existiert viel in der Welt: die Kneipe
nebenan, das Stadttheaterr, der Bundestag, und eben auch die
Müller-Schule in der Meierstrasse und die Meier-Schule in der
Müllerstrasse. Klar, das hat auch etwas mit uns zu tun, denn wir
gehen ja in die Kneipe und ins Theater, wir wählen das Parlament
und schicken die Kinder zur Schule. Aber es ist eben auch wahr,
und das zu übersehen macht die Macht der Schule aus, dass diese
Institution, die Schule, jede Schule zunächst einmal mit uns nichts,
aber auch ganz und gar nichts zu tun hat. Die Schulgesetze: nicht
von uns beschlossen. Die Lehrer: nicht von uns bestellt. Die Schul-
ordnung: nicht von uns in Auftrag gegeben. Die Lehrpläne: nicht
unsere Erfindung. Methodik, Didaktik, Motivation, Evaluation
und das ganze weitere depersonalisierende Brimborium: weiß
Gott nicht unsere Sache. Nichts, aber auch gar nichts ist von der
Schule auf unser Konto zu buchen. Wir hier - die Schule dort.

So - und von dieser radikalen, grundsätzlichen und wesentlichen
Unterscheidung aus sehe ich mir an, was das dort denn ist, die
Schule, wie sie strukturiert ist, was sie will, was sie bewirkt.
Und von daher kommt meine Entschlossenheit, für meine Kin-
der einzustehen und den Anforderungen der Schule immer
wieder mit Verwunderung zu begegnen: "Tatsächlich - das 
hat der Lehrer gesagt? Was hat er sich eigentlich dabei ge-
dacht?" Immer wieder. Und von daher kommen dann meine
Reaktionen, mein Umgang mit dem Merkwürdigen da draußen
- das Schule heißt und durch das ich selbst damals, zu meiner
Zeit, durchwanderte, durchmusste. Exotisch schon damals, eine
seltsame Erfindung, umgeben von der Aura des Absoluten, wie
Sonne, Mond und Sterne. Nur: dass ich heute diese Fiktion
sehe, als Erwachsener darum weiß, dass die Schule eben nicht
als göttlich Ding vom Himmel auf die Erde gekommen ist, son-
dern ein ganz und gar menschlich Ding ist, ersonnen und ge-
macht von Menschen wie Du und ich, und dass man das alles
gänzlich anders sehen kann.

Ich lade also jeden ein, sich von der Schulideologie zu befreien.
Big Brother, das Kuckucksnest, Trumans World zu verlassen,
diese gläserne Glocke, die Kinder leibhaftig einfängt, niemals
wirklich entlässt, sondern sie als großgewordene Kinder lebens-
lang gefangen hält. Schule muss nicht sein! Sollte sie sein? Jeder
von uns gibt hier seine eigene Antwort. Ein Tip für Unentschlossene:
Fragen Sie die Kinder, ein halbes Jahr nach der Zuckertüte. Sie
kennen noch den Zusammenhang, wissen noch um das, was mög-
lich ist, sie haben es noch im Blick, was Leben ohne Schule heißt.

Dies alles zu wissen macht sehr sicher, die eigenen, aus der familiären
Situation kommenden Antworten zu finden. Keine Hausaufgaben
gemacht? "Ran an die Arbeit" oder "Dann lass es eben". Ein Brief,
dass mein Kind sich in der Schule nicht benimmt? Wozu sollte es
sich benehmen? Und was heißt eigentlich "Benehmen" in der Schule?
Schlägt es andere Kinder? Vielleicht war das wichtig und richtig.
Redet es zu laut im Unterricht? Vielleicht war das wichtig und richtig.
Tut es nicht, was der Lehrer will? Vielleicht war das wichtig und
richtig. Jeder Mensch, auch jeder junge Mensch, auch jedes Kind
in der Schule tut immer etwas Sinnvolles, mit Grund, aus seiner ei-
genen, individuellen Schlüssigkeit und Weltdeutung heraus. Das in-
teressiert mich. Also: Warum keine Hausaufgaben? Was führte zur
Schlägerei? Zu Gegenreden? Ich liebe mein Kind und ich freue mich,
wenn ich es mehr und mehr immer wieder neu verstehen lerne. Soll
ich mein Kind korrigieren um der Schule willen? Soll ich einen leben-
digen Menschen korrigieren, weil Herr Meier das gern so von mir
hätte? Wer bin ich denn?

*

Was also ist im Fall mit dem Schwimmunterricht zu tun? Ich habe
gesagt, ein Gespräch mit dem Lehrer kann nicht schaden. Motto:
Ich habe keine Lust, dass mein Kind sich erkältet. Aber das weiß
er doch selbst. Er kann seinen Unterricht besser handhaben, wenn
die einen Kinder im Wasser sind und die anderen auf der Bank.
Erkältungsrisiko eingeschlossen. Wie immer hat auch dieser Lehrer
sein eigenes System, mit den Kindern und seinem Lehrauftrag zu-
rechtzukommen. Eltern stören da nur. Doch auch wenn das alles
so ist: Ich bin nicht für die Schule und den Lehrer da, sondern für
mein Kind. Und dann interveniere ich. "Ich möchte nicht, dass mein
Kind mit nasser Badehose rumsitzt und sich erkältet."