Zu meinem diesjährigen Klassentreffen kam auch unser damaliger Klassenlehrer der Abschlussjahre. Beim letzten Treffen hatte ich ihm kurz etwas von Amication erzählt und dann ein Buch (Amication – Themensammlung) geschickt. Er hatte es gelesen und war überhaupt nicht einverstanden! Bevor das Essen in unserem Stammlokal kam, hatte ich 15 Minuten – ich wollte ihm den Kern der Sache, das, was Amication ausmacht, gern vermitteln. Es hat nicht geklappt!
Ich habe darüber nachgedacht, als ich nach Hause fuhr. Warum konnte ich ihn nicht erreichen? Ich bin doch erfolgreich auf den Elternabenden. Ja, da habe auch auch zwei Stunden Zeit, davon hören die Eltern eine Stunde lang erst einmal konzentriert zu (was bei der schwierigen Thematik erstaunlich genug ist). Und ich merke an den Fragen und Reaktionen, dass viele Eltern eine Ahnung davon bekommen, was mit Amication gemeint ist. Sie sind zum Schluss angerührt und bedanken sich.
Die Eltern kommen mit dem Fragehaltung: Was ist eigentlich mit „Unterstützen statt erziehen“ gemeint? „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“ - so (und etwas mehr an Inhaltlichem) steht es in den Flyern, die sie im Kindergarten oder im Volkshochschulprogramm lesen. Sie wollen es verstehen. Mein Klassenlehrer dagegen war auf einem anderen Trip: Dem Ablehnungskurs. Er wollte mir klar machen, dass das so nicht geht, was ich da geschrieben hatte. Er wollte nicht verstehen, er wollte korrigieren. Sein Impuls war gänzlich anders.
Er hatte die üblichen Einwände: man muss doch Grenzen setzen (als täte ich das nicht), man weiß es besser als die unwissenden Kinder. Tja, das weiß ich auch, natürlich ist es unten an der Wand eine Steckdose und keine Schweineschnauze. Aber mein Wissen – nach dem ich auch handle – stellt mich auf der psychologischen Ebene jedoch nicht über das Wissen eines anderen, und sei er noch so anders/jung.
Der Unterschied von Handlungsebene und psychologischer Ebene war meinem Klassenlehrer nicht präsent als goldener Weg zum Verstehen von Amication. Mein Erklären der verschiedenen Ebenen brachte nichts. Da warf ich eine Gabel auf einen Teller, dass es nur so schepperte! Alle sahen auf, die Bedienung erstarrte. „Werner, das Werfen und das Geräusch ist die Handlungsebene. Dein Erschrecken und peinliches Berührtsein ist die psychologische Ebene. Und ich bin nur in der psychologischen Ebene anders als erzieherische Eltern“. Half nichts, kam nicht an. Meine Gabelwerferei im vornehmen Restaurant war einfach nur daneben. Vermitteln konnte ich nichts.
Auch das Beispiele vom achtungsvollen Töten des Büffels zog nicht: auf der Handlungsebene klares Oben (erfolgreicher Jäger) und Unten (getöteter Büffel), auf der gleichzeitigen psychologischen Ebene klare Gleichwertigkeit (Jäger „Ich danke Dir für dein Fleisch“, Büffel „Du setzt mich nicht herab, auch wenn Du mich tötest“). Und meine Vergleiche vom früheren chauvinistischem Oben-Unten der Männer zum heutigen gleichwertigen Zusammensein mit Frauen auch nicht. „Lass das mal, den Vergleich mit den Frauen“.
Es fehlte einfach der Funke, das Aufblitzen einer Erkenntnis. Es kamen ganz andere Statements von ihm als ich sie auf den Elternabenden zu hören bekomme. Er: „Wie lange warst Du eigentlich Lehrer?“ „Wie hast Du Deine eigenen Kinder großgezogen?“ Immerhin vermied er „erziehen“, es war ihm klar, dass ich da etwas dagegen hatte. Was ich dagegen hatte, war aber eben nicht klar. Jedenfalls wollte er mich einem Praxistest unterziehen, die Legitimation einsehen, ob ich überhaupt in pädagogischen Belangen mitreden könne. Dass es um ein strukturelles Problem ging, um eine postpädagogische Haltung im Gegensatz zu einer pädagogischen Haltung, dass es um Erwachsenen-Chauvinimus ging, Adultismus genannt – das verfing nicht.
Er konterte meinen 5-Minuten-Theorie-Redeschwall („Hör mir erst mal 5 Minuten einfach zu“) mit „Das geht nicht“ auf der praktischen Ebene. Ich konnte ihm nicht klar machen, dass es um Existentielles, Menschenbild und Co ging. Obwohl ich das ja sagte – es verfing eben nicht.
Ich habe mir dann auf der Rückfahrt gesagt, dass er eben wie alle, die ich im Laufe der vielen Jahre Öffentlichkeitsarbeit mit Amication nicht erreicht habe, in einer anderen Welt, einem anderen Narrativ oder Erzählung unterwegs ist. In der pädagogischen Welt eben. Wenn ich da nicht irgendwie dazwischenkomme, mit viel ruhiger Erzählzeit, ohne Opposition und mit offenen Ohren und Resonanz mit eigenen Kindheitserfahrungen, dann geht da nichts.
Und außerdem wollte ich etwas erklären – Erklären hatte er aber nicht bestellt. Er wollte selbst etwas erklären, mir nämlich: dass es mit der Amication nicht geht. Er hat mich nicht gefragt: „Wie meinst Du das alles eigentlich mit der Amication?“ Da bin ich halt übers Ziel hinausgeschossen. Es hat mich mitgerissen, ich wollte meinem Lehrer etwas zeigen. Ein Schüler, der etwas entdeckt hat. Ich wollte ihm meine wunderschönen neuen Blumen zeigen und habe nicht gemerkt, dass er meinen Blumenstrauß für eine Ansammlung von Unkraut hielt.
Wir sind friedlich auseinandergegangen. Das Essen kam, und die anderen hatte auch genug von meiner Beschlagnahme unseres Klassenlehrers. Schick ich ihm noch ein Buch hinterher? Vielleicht mein „Schule mit menschlichem Antlitz“ oder mein Schultagebuch? Immerhin war er doch lange Zeit Lehrer... Ich werde es lassen. Er hat nicht danach gefragt. Ich will ihn doch nicht missionieren.
Und: Ich mag ihn sehr.
(Über mein erstes Wiedersehen mit meinem Klassenlehrer habe ich im Post vom 25.2.2018 etwas geschrieben.)