Montag, 8. Juli 2024

Nicht erziehen - das soll das!



 

Mein Freund Bogdan, Pädagogik-Professor an der Universität Lodz in Polen, wird zu seinem 70. Geburtstag mit einer Festschrift geehrt. Ich kann mit einen Beitrag mitmachen. In meinen Texten finde ich etwas, das ich den dem Fachpublikum gern vorstellen möchte. 

Den ersten Teil meines Beitrags habe ich in den letzten Post gestellt. Hier der zweite Teil. 

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Nicht erziehen - das soll das!

Interpretationen, Bilder vom Menschen, können sich als überholt erweisen.

Zum Beispiel die Sicht, dass jemand mit schwarzer Haut ein nicht so richtiger und wertvoller Mensch ist wie jemand mit weißer Haut und dass er sich zum Sklaven
eignet. Oder die Sicht, dass Männer die richtigeren und wertvolleren Menschen sind, und dass man deswegen den Frauen das Wahlrecht nicht zubilligen darf. Oder die Sicht, dass nur der König die Staatsgeschäfte richtig führen kann, nicht das Volk. Oder, oder, oder. Menschenbilder gibt es viele, doch stets sind sie Hypothesen, Bilder – niemals jedoch bewiesene Tatsachen des Lebens.

Die pädagogische Sichtweise auf das Kind ist auch nichts anderes als eine solche anthropologische Hypothese. Sie ist nicht wirklich zu beweisen, aber sehr wohl als Grundlage für den Umgang mit Kindern geeignet und bewährt.

Bis eine neue anthropologische Hypothese auftritt und das alte Bild und die vertraute Basis in Frage stellt. Bis jemand kommt, der die pädagogische Sicht vom Kind nicht mehr akzeptiert und einen nicht pädagogischen Weg zu den Kindern sucht. Und findet. Und entsprechend seiner neuen Hypothese zu leben beginnt. Und nicht scheitert, sondern Erfolg hat. Und genau solche Menschen gibt es heutzutage.

Diese Menschen kommen aus der konstruktiven Postmoderne, in der die Gleichwertigkeit aller Phänomene als Grundlage erkannt wird. Niemals steht etwas wirklich über dem anderen, Weiße nicht über Schwarzen, Männer nicht über Frauen, Regierende nicht über Regierten, Menschen nicht über der Natur, Philosophien nicht über Philosophien, Religionen nicht über Religionen, Kulturen nicht über Kulturen. Und auch nicht Erwachsene über Kindern.

Wenn das Paradigma der Gleichwertigkeit ernst genommen und zur Grundlage gemacht wird, dann gibt es den Unterschied von einem vollwertigen Menschen (dem Erwachsenen) und einem noch nicht vollwertigen Menschen (dem Kind) nicht mehr – sondern es wird gesehen, dass beide auf einer gleichen Plattform stehen, der Plattform des vollwertigen Menschen. 

Und dann hat eine missionarische Haltung, wie sie jeglicher Erziehung zugrunde liegt, keinen Platz mehr. Dann werden Kinder nicht mehr erzogen, dann lebt etwas anderes als Erziehung zwischen Erwachsenen und Kindern: personale Beziehungen, wie bei allen anderen Menschen auch.