Montag, 31. Oktober 2016

Mit welchem Recht, Teil I

Ich habe eigene Erfahrungen mit dem Lehrersein. Ich habe beide Staatsexamen für das Lehramt abgelegt und Mathematik, Biologie, Physik und Technik in den Klassen 5 bis 10 unterrichtet. Die Schüler wählten mich zum Vertauenslehrer. Ich übersehe nicht das große Engagement der allermeisten Lehrer und ihre vielfältige Hilfe und Unterstützung für die ihnen anvertrauten Kinder. Ich habe vor diesen Leistungen ehrlichen Respekt. Aber ich will hier sehr grundsätzliche Fragen zum Thema Schule aufwerfen und werde sie in vielen Nuancen, mit großer Entschiedenheit und ungeschminkt vortragen. Dabei kann ich akzeptieren, wenn man meine Gedanken als provozierend und absurd zurückweisen sollte. Doch ich setze niemanden herab, auch keinen Lehrer und keine Lehrerin. Ich erhoffe mir Betroffenheit und Nachdenklichkeit.

"Lieber Lehrer, liebe Lehrerin: mit welchem Recht..."

Mit welchem Recht legen Sie fest, was ein anderer Mensch zu denken und was er nicht zu denken hat? "Schlag Dein Buch auf, lies den zweiten Absatz von oben!", "Wiederhole, was ich gerade gesagt habe!", "Gib den Text mit eigenen Worten wieder!", "Wieviel ist sieben mal acht?", "Wo fließt der Amazonas?", "Wann, warum, womit, weshalb, wodurch, weswegen, wohin, wie lange, wozu, wie oft, wie gut, wie schnell, mit wem, mit wem nicht, mit welchem Recht, ...?" Mit welchem Recht setzen Sie sich grandios über das Recht eines anderen Menschen hinweg, zu denken, was er will? Warum mißachten Sie das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit? Permanent, ohne auch nur irgendeinen Impuls des Innehaltens, des Ahnens, dass da etwas Ungeheuerliches passiert? Mit welchem Recht greifen Sie so ohne jeden Skrupel in die innere Souveränität eines anderen Menschen ein? Mit welchem Recht zelebrieren Sie in geradezu religiösem Fanatismus diesen kulturellen Imperialismus? Mit welchem Recht behandeln Sie die Kinder wie die Nigger, denen der Missionar die Religion und Zivilisation beizubringen hat? Warum haben Sie wie die kommunistische Partei immer Recht? Was treibt Sie in diesen unreflektierten Chauvinismus, in diesen überbordenden Adultisms?

Was hindert Sie eigentlich, in Kindern Menschen zu sehen, die ihre eigenen Gedanken und ihre eigene innere Welt haben, mit denen man von Gleich zu Gleich in Austausch treten kann? Was treibt Sie in den "pädagogischen Bezug", der Ihnen die Führungs- und Formungsrolle gibt, wie progressiv sich das heute auch ausnimmt? Wozu ist es gut, dass Sie selbst nach und nach versteinern, weil Sie immer dieselben Fragen stellen und ohne wirklichen geistigen Austausch leben - den Sie verfehlen, wenn Sie Kinder nicht als vollwertige Menschen mit einer eigenen souveränen innern Welt sehen, sondern als Behälter, die mit Ihrem Wissen und Ihrer Kultur gefüllt werden müssen? Warum sind Ihre Augen verschlossen vor dem Leid, das Sie diesen Menshen psychisch, intellektuell und spirituell zufügen? Und vor dem Leid, das Sie sich durch die dadurch bedingte Isolation selbst zufügen?

Warum verschließen Sie sich dem kulturellen Paradigmawechsel von Oben-Unten hin zur Gleichwertigkeit und zur Achtung vor der Identität des anderen? Wie er längst gelungen ist in den Lebensbereichen Schwarz-Weiß, Mann-Frau, Mensch-Natur, Kultur-Kultur, Religion-Religion und vielen anderen? Mit welchem Recht setzen Sie den historisch überholten Totalitarismus im Klassenzimmer fort? Mit welchem Recht verordnen Sie im Machbarkeitswahn gottgleicher Sendung anderen Menschen Ihre kulturelle und zivilisatorische Vorstellung vom Menschen?

Mit welchem Recht verstoßen Sie gegen das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit? Warum können die Kinder nicht sagen, was sie wollen und wann sie es wollen? Was heißt "Ihr seid zu laut!", "Du bist nicht dran!", "Rede vernünftig!", "Das paßt nicht hierher!" eigentlich? Mit welchem Recht maßen Sie sich an, anderen Menschen über den Mund zu fahren? Warum machen Sie die Kinder mit Ihrem "Ruhe jetzt!" zu Duckmäusern? Mit welchem Recht sind nur Ihre Gedanken und Ihre Worte verbindlich, und warum haben die Kinder keine wirkliche Möglichkeit zum Widerspruch, zum Vortragen eigener Meinungen, zur Vertretung ihrer Interessen? Mit welchem Recht hängt alles grundsätzlich und im Detail immer wieder von Ihrem Wohlwollen ab, wie in der Leibeigenschaft? Mit welchem Recht üben Sie im Klassenzimmer Diktatur aus und mißachten die Grundwerte der Demokratie? Mit welchem Recht gilt für Sie nicht "Die Würde des Menschen ist unantastbar"? Mit welchem Recht tasten Sie die Würde der Kinder an, denken und sagen zu können, was sie selbst denken und sagen wollen?

Fortsetzung folgt.