Samstag, 17. Dezember 2016

2050, 2100, 2200? III


Fortsetzung vom 14.12. Als ich mit meinen Kindern einmal in England war, haben wir auch den Tower und die dort ausgestellten Kronjuwelen besichtigt. Das Erlebnis von damals hat mich zu dem folgenden Wort-Bild in Sachen Schule inspiriert. Hier nun der dritte Post zur Schulthematik aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz".

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"Zukunft, 2215", Aquarell

London, im Mai 2215. Sie sind in den Ferien in England und kommen nach einem erlebnisreichen Vormittag zum Tower. Seit langer Zeit ist in dieser ehemaligen Trutzburg ein Museum eingerichtet, unter anderem sind die Kronjuwelen des britischen Königshauses dort dauernd ausgestellt. Doch diesmal gastiert eine Sonderausstellung, die für viel Aufsehen sorgt und die Sie sich nicht entgehenlassen wollen. Dort lassen sich "Werkzeuge der Schule des 20. Jahrhundert (1900-2000)" besichtigen.

Wie immer sind die Räume abgedunkelt, und die Besucher können im Kreis um die Exponate herumgehen. Das Besondere dieses Museums ist, dass man nicht stehen bleiben darf, wegen des großen Andrangs. Wer länger schauen möchte, muß dazu auf den rückwärts gelegenen Balkon gehen, der ebenfalls kreisförmig die Exponate umgibt. Nun, Sie sind im inneren Kreis und sehen, was es zu sehen gibt, und gehen langsam vorwärts. Flüstern ist im Raum, gespannte Aufmerksamkeit.

Sie sehen hinter dem Panzerglas einen länglichen Gegenstand, etwa zwei Hände lang, mit vielen Symbolen versehen und anscheinend beweglich, ausziehbar. Sie haben keine Vorstellung davon, was das sein könnte. Sie lesen die kurze Beschreibung: "Mathematik-
unterricht - Rechenschieber". Raunen umgibt Sie. Eine Frau liest aus dem Katalog: "Damit wurden die Kinder damals angehalten, ihre Gedanken in Zahlen zu zwingen und ihre Harmonie mit der Welt zu zerteilen. In Ad-die-ren und Sub-stra-hie-ren und Mul-ti-pli-zie-ren und Di-vi-die-ren." Und sie sagt, und damit spricht sie Ihnen aus dem Herzen: "Schrecklich!"

Sie wenden sich dem nächsten Exponat zu. Eine Stange. Sie ragt neben der Vitrine nach oben und ist fünf Meter lang. Was um alles in der Welt wurde denn damit gemacht? "Sportunterricht - Kletterstange" steht auf dem Etikett. Was ist eine Kletterstange? Ihr Nachbar erklärt: "Damit wurden die Kinder gezwungen, ihre Arme und Beine so zu bewegen, wie der Lehrer es wollte. Die Kinder mußten da hinaufklettern."  Sie sind entrüstet: "Die haben sie gezwungen, ihre Arme und Beine? Die Kinder konnten über ihren Körper nicht selbst bestimrnen? "Schule", sagt Ihr Nachbar, "Schule!"

Weiter geht es im Kreis. Nun sehen Sie ein Blatt Papier. Es enthält Sätze, aber diese Sätze sind voller Lücken. Was soll das? Sie lesen die Beschreibung für die Museumsbesucher: "Deutschunterricht - Arbeitsblatt zum Ausfüllen". Wieder verstehen Sie nichts. Sie hören, wie zwei andere Besucher kommentieren: "Mit diesen Papieren wurden die Kinder in die vorgezeichneten Bahnen der Sprache gezerrt. Es gab besondere Regeln, wie die Sprache benutzt werden mußte. Nichts erfolgte authentisch, so wie wir heute sprechen. Die Kinder mußten das, was sie sagten, analysieren und diesem System unterwerfen. Man nannte das 'Grammatik' und es gab so seltsame Teile wie 'Subjekt, Prädikat, Objekt'. Die Kinder mußten die gesamten Regeln kennen und durften ihre Sprache nicht einfach benutzen und lieben. Sie entwickelten Abscheu zu ihrer Sprache und zu ihren Gedanken, wegen all dieser Unterdrückung. Unvorstellbarl" Ihnen schaudert, als Sie sich vorstellen, dass Kinder in das Korsett von Sprachregeln gezwungen wurden. "Und darin soll ein Gewinn gelegen haben?" Ihr Nachbar stellt sich als Historiker vor und sagt: "Ja, es gab einen großen Vorteil - für die, die andere beherrschen wollten, die sie sich gefügig machen wollten. Ihr Mittel war, durch die Schule ihre Gedanken und ihre Sprache unter Kontrolle zu bekommen.«

Eigentlich reicht es Ihnen jetzt und Sie haben genug von der "Schule des 20. Jahrhunderts". Aber noch müssen Sie im Kreis weiter. Nun sehen Sie einen hölzernen Gegenstand. Es ist ein Kasten, mit runden Kanten, und mit einer Stange am oberen Ende, versehen mit Drähten. Das Ganze etwa armlang. Was ist denn das und was wurde damit gemacht? "Musikunterricht - Geige" lesen Sie. Sie schauen in Ihren Katalog:

"Die Geige war kein reguläres Werkzeug der Schule, sondern sie war der Disziplinierung von Kindern mit besonderer musischer und spiritueller Begabung vorbehalten und diente der 'Strategie der Demoralisierung'. Diese Kinder waren am Anfang ihres Geigentrainings stets vollauf begeistert und sie öffneten ihre Herzen. Doch diese Offenheit verflog rasch - aber sie hatten einmal eingewilligt und durften sich dann nicht mehr vom Geigespielen lösen. Denn mit diesem Gerät sollte die besondere Sensibilität dieser Kinder in die gewünschten Bahnen gelenkt werden. Man bediente sich akustischer Impulse (Töne), die von den Kindern selbst hergestellt werden mußten. Sie hatten die Finger ihrer linken Hand und den rechten Arm mit einem 'Bogen' in ganz bestimmter Weise zu bewegen, urn die gewünschten Frequenzen zu erzeugen. Fixiert wurde mit sogenannten 'Noten'. Und da die Experten auf diesem Gebiet derart schwierige Übungen vorschrieben, die von den allermeisten Kindern niemals korrekt ausgeführt werden konnten, war der Effekt die gewünschte Demoralisierung und das benötigte Minderwertigkeitsgefühl. Von der steten Unlusterfahrung, in einem hochsensiblen emotionalen Bereich etwas tun zu müssen, was man nicht will, ganz zu schweigen. Und die wenigen Begabten, die das wirklich konnten und gern machten, wurden all den anderen als Norm vorgehalten, und die Unerreichbarkeit dieser Vorbilder steigerte das Gefühl des Versagens."

Nun graust es Ihnen endgültig: Strategie der Demoralisierung? Herzen und Finger der Kinder zwingen? Der Katalog weist über 200 Exponate aus - erst vier haben Sie gesehen. Aber Sie brauchen Licht und Luft und sind froh, als Sie das Schild "Ausgang" sehen: Nichts wie raus hier! Draußen setzen Sie sich auf eine Bank und blättern im Katalog. Sie halten inne - und mit einem entschlossenen "Nein" werfen Sie den Katalog in den Papierkorb. "Banause" hören Sie jemanden rufen. Sie lächeln zurück.

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Heute berichtete mir die Mutter eines Siebenjährigen von "Steinen". Die Lehrerin hatte den Kindern vor vier Wochen ein leeres Heft mit nach Hause gegeben. Sie sollten sich ein Thema aussuchen, darüber etwas ins Heft schreiben und illustrieren, und dann ihre Arbeit  in der Klasse vorstellen. Alle stellten gestern ihre Hefte vor. Anschließend wurden die Hefte auf einen freigeräumten Platz in die Mitte des Klassenzimmers gelegt. Alle konnten sich die Arbeiten noch einmal ansehen. Und sie dann so bewerten: Jedes Kind hatte einen kleinen Stein. Den legte es auf das Heft, das ihm am besten gefiel.

Es kam, wie es kommen mußte: einige Hefte hatten viele Steine, einige wenige, einige keine. Aber was hatte sich die Lehrerin um alles in der Welt dabei gedacht? Hatte sie in ihrer Ausbildung nicht ein Mindestmaß an Psychologie rezipiert? Hatte ihr die "gute Idee" den Blick auf das verstellt, was bei den Kindern ablaufen mußte? Strahlende Gesichter:" Ich habe viele Steine bekommen!". Wortloses Blicksenken: "Ich habe keinen Stein bekommen." Doch was geht hier im Untergrund, in der Seele ab? Konkurrenzdenken fördern. "Ich bin besser als Du, ich habe mehr Steine!" Versagungsängste fördern. "Ich habe keinen Stein und tauge nichts!" Angeberei in die Klasse tragen. Schlechte bestrafen und Minderwertigkeitsgefühle produzieren. Motivieren der Guten auf Kosten der Schwachen. Demotivieren von eh schon Schwachen. Dieses Steine-Werkzeug der Schule des 21. Jahrhunderts ist im Museum gut aufgehoben!

Die Mutter war entsetzt. "Mein Sohn hat erzählt, dass das schon seit der ersten Klasse so geht.  Er hat bis heute noch nichts davon erzählt - er nimmt das als Standard. Ich glaub's nicht!" Wann ändert sich etwas? 2050? 2100? 2200?