Mittwoch, 7. Dezember 2016

Bildungsverständnis: neu


Hin und wieder führe ich Seminare für Tagesmütter und Tagesväter durch. Daraus ist dieser
Text entstanden: Die „neuen“ Tagesmütter und Tagesväter oder Professionalität mit menschlichem Antlitz.

Wenn man angeleitete und von außen bestimmte Kinder im Sinn hat, muss der Erwachsene
entsprechend anleiten und das Lernen der Kinder von außen, d.h. von seinen Vorgaben her
bestimmen. Derartiges hat eine lange Tradition, ist voll bester Absicht und meist von großem
Engagement - aber immer wieder fruchtlos und für beide Seiten frustrierend. „Ich komme an
die Kinder gar nicht richtig heran“ schwingt dann beim Erwachsenen mit, der gesenkte und
verschlossene Blick und das stumme „Lass mich in Ruhe!“ ist die korrespondierende `
Grundstimmung des Kindes.

Es gibt heute ein neues Bild vom Kind und ein neues Bildungsverständnis: Ein Kind kann
nicht (passiv) gebildet werden, sondern es kann sich nur selbst (aktiv) bilden. Wenn man
das ernst nimmt, kann man kein Kind mehr direktiv anleiten und kann man kein Lernen mehr
nach den eigenen Vorgaben bestimmen. Dann ist es aus mit der traditionellen Aufgabe und
Rolle der missionierenden Fachleute, so bemüht und gutwillig sie auch sind. Dem neuen
Bild vom Kind als einem aktiven innengesteuertem Wesen tritt dann ein entsprechendes
neues Bild des Erwachsenen zur Seite, der sich um die Bildungsprozesse dieses - „neuen“ -
Kindes kümmert.

Der traditionelle Erwachsene war oft pädagogisch (vor- bzw. aus-)gebildet und verstand sich
um so professioneller, je mehr er als Person zurücktrat zugunsten all dessen, was er als gut
und zielführend für die kindliche Bildung erlernt hatte. Er ging wie mit dem weißen Kittel des
Fachmanns zum Kind, um es entsprechend seiner Professionalität zu fördern. Wen er hinter
dem weißen Kittel verbarg, war unwichtig, ja störend. Seine Stimmungen und Gefühle, seine
Person störten das, was seine Aufgabe war. Er hatte alles Persönliche zurückzustellen, um
frei von diesen persönlichen Irritationen ganz für das Kind da zu sein, als fachlich versierter
Experte.

Die „neuen“ Kinder werden nicht länger als zu missionierende Wesen angesehen, sondern
als sich selbst gehörende Geschöpfe, mit innerer Souveränität und unantastbarer Würde,
als Personen, die ihren eigenen Bildungspfaden folgen, so, wie diese sich ihnen nach
eigenen Gesetzen eröffnen. Diese Kinder benötigen für ihre Entwicklung Personen, keine
Experten im weißen Kittel. Leibhaftige Personen, mit Ecken und Kanten, Haken und Ösen.
Persönliche Wahrhaftigkeit ist gefordert, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ statt „Sieh
das ein, ich habe recht“. Sich trauen, Umleitungen, Irrwege und Fehler riskieren, Mut zum Nichtüberschaubaren haben, einen Schuss Surrealismus und Nonsens mitbringen, Zufall
und Spielerei statt zielgerichteter Effektivität wichtig finden, sich treiben lassen in die
Beziehung zum Kind und in den Augenblick statt alles und jedes gekonnt inszenieren.

Das Motto dieser neuartigen Professionalität könnte sein „Wir hatten einen schönen Tag“.
Mehr muss nicht sein. Wer auf Kinder aus sich heraus zugeht, ohne List und Hinterlist - der
erreicht sie auch. So einfach ist das. Und so schwer: denn gegen dieses humane Prinzip
der persönlichen Wahrhaftigkeit steht die Wucht und Macht eines pädagogischen Effekti-
vismus, der bis ins letzte Detail genau weiß, wie so ein Vormittag zu laufen hat. Nichts da!
Niemand weiß,wie so ein Vormittag laufen wird! Personen treffen sich, die Tagesmutter
oder der Tagesvater und die Kinder, ein jeder mit seinem aktuellen und situativen Hinter-
grund, und diese Personen gehen miteinander um. Derartige Begegnungen von Person zu
Person laufen in unzähligen Varianten und Nuancen ab, nicht gesteuerte Beziehungen
zwischen einem präsenten Erwachsenen und sich bildenden Kindern.

Der „neue“ Erwachsene und das „neue“ Kind sind gleichwertig, und ihre Würde ist
gleichgewichtig. Sie sind gleich kompetent für das eigene Lernen, die eigene Entwicklung,
die eigene Bildung. Selbstverständlich lernt, entwickelt und bildet sich bei einer solchen
rehumanisierten Kommunikation auch der Erwachsene: er ist offen für die Große Vielfalt
der Kinder und schwingt in ihre Aktivitäten ein. Wobei er immer wieder auch an seine
(Erwachsenen)Grenzen stößt, die er gewahrt wissen will und die er auch gegen die Kinder
durchsetzt, wenn ihm das aus seinen subjektven Gründen wichtig und unverzichtbar ist.
Oder die er verschiebt.

Der „neue“ Erwachsene ist unendlich befreit: nichts muss er und „objektiv nötig“ und
„pädagogisch unabdingbar“ tun! Er entscheidet souverän, was zu tun ist, aus seiner
Erfahrung heraus, seinem Wissen folgend oder intuitiv, situativ, fehleroffen, gestresst
oder entspannt, sich selbst spürend, seinem Engagement und seiner Liebe zu den Kindern
nachgebend. Er muss nicht dieses oder jenes tun - er kann dieses oder jenes tun! Und er
tut es, er handelt, er verweigert sich nicht, er ist klar erkennbar, ist Position und Orien-
tierung: „Seht, hier bin ich und das tue ich“ und „Das sind meine Werte und Grenzen,
meine Gefühle und Absichten.“ Er legt sich offen, er ist offen. Er ist in lebendiger
Kommunikation mit den Kindern. Die Zeit, die er mit den Kindern verbringt, ist auch
seine eigene Lebenszeit, die ihm und niemandem sonst gehört, auch nicht den Kindern,
auch nicht ihren Bildungsprozessen. „Wer bin ich?“ und „Was will ich wirklich?“ ist der
Boden, auf dem er steht, und von dieser existentiellen Position aus macht er sich auf zu
den Menschen vor ihm, um Jahre jünger, aber von gleicher Art. Beide gehören sich selbst
und begegnen sich.

Wie gelingt eine solche Kommunikation auf gleicher Augenhöhe? Wie gelingt eine solche
Beziehung zwischen Männern und Frauen, Weißen und Schwarzen, Christen und
Muslimen? Wie immer, wenn vormals Oben-Unten-Positionen übenwunden werden und
das Paradigma der Gleichwertigkeit die Kommunikation bestimmt. Erwachsene lernen
traditionell, über Kindern zu stehen, recht zu haben, sie zu erziehen. Doch vor dem
Erwachsenwerden konnte jeder Erwachsene die Gleichwertigkeit realisieren - in der
eigenen Kindheit, von Kind zu Kind. Wir alle tragen tief in uns diese ursprüngliche Art
des Umgangs mit Kindern, hunderttausende, Millionen von Jahren überliefert. Und wer
sich nicht verdrehen, verschieben, verbilden lässt durch ein traditionelles aus dem
Maschinenzeitalter kommendes pädagogisches „Expertentum“, der bleibt sein Leben
lang bei diesem intuitiven Wissen.

Oder er erobert es sich zurück. Hier sind Seminare und Schulungen für Tagesmütter und
Tagesväter in den Blick zu nehmen: Wie kann ich mich vom traditionellen Oben-Unten-
Denken den Kindern gegenüber, vom Adultismus emanzipieren? Wie finde ich meine
authentische Kommunikation zu den Kindern wieder? Wie kann ich sie ausbauen? Sich
selbst kennen lernen und zu sich stehen, als Person reifen. Hier beginnt die neue
Professionalität. Vielfaltigste Details müssen von hier aus abgeleitet und gefunden
werden. Eine große Herausforderung.