Montag, 12. Dezember 2016

2050, 2100, 2200? I


Ich wende mich wieder einmal der Schule zu. Schule ist ja so ein weites Feld... Es sind Passagen aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz".

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Menschen lernen immer, denn Menschen können nicht nicht lernen. Die Frage ist nicht die, ob Lernen stattfindet oder nicht - Lernen findet immer statt! Die Frage ist, ob ein Kind das lernen muß, was die Erwachsenen vorgeben, oder ob es das lernt, was es selbst zu lernen entscheidet - ob Lernen mit oder ohne Zwang stattfindet. Soll ein Kind lernen? Das lehne ich als unzulässigen Eingriff in die innere Freiheit eines anderen Menschen ohne Wenn und Aber ab. Ich möchte keine Zivilisation und Kultur, die auf der geistigen Bevormundung, Unterdrückung und Versklavung der eigenen Kinder beruht - und nichts anderes sehe im Lernen mit Zwang. Wer soll entscheiden über das, was gelernt wird, individuell und gesellschaftlich? Das Lernen gehört demjenigen, der lernt - nicht anderen. Ich will keine Marionetten!

Auch mir ist es wichtig, mein Wissen von der Welt weiterzugeben. Ich bin für eine kulturelle Tradierung. Aber nicht als kulturellen Imperialismus wie in Afrika oder bei den Indianern. Als Angebot, als Kommunikation von Gleich zu Gleich. Vielleicht am Anfang schwer zu realisieren, aber nicht unmöglich. Bei jedem Auslandsurlaub kann man erfahren, dass so etwas selbstverständlich gelingt, auch in Afrika oder am Ende der Welt. Von sich, seinem Wissen, seinen Werten, seinen Gefühlen - in gegenseitiger Achtung voreinander - berichten, darüber ins Gespräch kommen, Geben und Nehmen. Ich will, dass jungen Menschen die Welt - das Erwachsenenwissen von der Welt - nicht oktroyiert wird, sondern dass es ihnen vorgestellt und anvertraut wird: zur eigenen Bewertung. Die Kinder entscheiden selbst, was sie übernehmen und was nicht.

Ich sehe keine Katastrophe kommen, wenn die Kinder außer dem Kleinen Einmaleins, das sie auch ohne Schule im Laufe ihres Lebens an jeder Ecke finden werden, nicht das Große Einmaleins und (a+b) . (a+b) beherrschen. Wer kann so etwas denn als erwachsener Mensch überhaupt noch? Braucht man das, um ein Auto zu kaufen oder um die Finanzierung des Eigenheims durchzukalkulieren? Man braucht es nicht. Ebensowenig wie den Sinus oder den Cosinus und all den anderen Tamtam, der Mathematik genannt wird. Für den Autokauf reicht das Kleine Einmaleins, für die Finanzierung frage ich die, die sich auskennen. Und solche Menschen wird es selbstverständlich auch geben: Weil wir in einer Welt leben, in der sich mit Mathematik Geld verdienen läßt, als Ingenieur, Architekt oder Finanzberater. Diese Menschen sind ein Bruchteil der Gesellschaft - es sind die Menschen, die eine Begabung für Mathematik haben. Sie werden ihre Begabung erkennen und fördern, und zwar auch ohne Schulpflicht und Mathematikunterricht für alle. Sie werden Examen machen und einen Beruf mit mathematischer Grundlage wählen. Es sind die Menschen, denen die geistige Herausforderung der Mathematik etwas schenkt, die sich ihren Aufgaben gern stellen, die ganz einfach Spass am Rechnen haben und vielleicht von der Virtuosität, Eleganz und Schönheit der Mathematik erfüllt sind. All die anderen Menschen aber, und das ist weiß Gott der größte Teil, bleiben mit dem abstrakten Hobby einiger weniger, das sich Mathematik nennt, bitte verschont.

Diese Überlegungen gelten für alle Schulfächer, für alle Hobbys, die dem einen sinnvoll, dem anderen nur skurril erscheinen. Das Lernen ohne Sollen ist nicht das Ende des Lernens, sondern das Ende des Sollens beim Lernen. Für wen ist es wichtig, zu wissen, wie lang der Amazonas ist? Wann die Pyramiden erbaut wurden? Wer Napoleon war? Was ein Subjekt, Prädikat, Objekt ist? Wie schnell der Schall ist? Was Licht und Schatten für die Kunst bedeuten? Was die Christen unter dem Pfingstfest verstehen? Wie die Zinsrechnung funktioniert? Aus welchen Teilen eine Blüte besteht? Meine Güte! Ja, natürlich, wen das interessiert. Aber wen interessiert das denn? Fragt sie, die Kinder. Und nicht vergessen: Die, die wir da fragen, sind vollwertige Menschen, souverän, keine Lernsklaven.

Fortsetzung folgt.

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Ich habe das mit der Mathematik so ausführlich beschrieben, weil Mathe mein Lieblingsfach war. Und weil ich Mathelehrer war. Ich kenn mich da aus. Als Kind habe ich den anderen gern Mathe erklärt, wenn sie nicht weiterwußten. Und mich immer gefragt, wozu das denn gut sein soll, dass sie sich so damit abquälen. Als Mathelehrer habe ich dann auch gern erklärt, gerade auch den Schülern, die mit Mathe nicht klarkamen. Und ich habe eine Nachmittags-Mathe-AG eingerichtet, auf freiwilliger Basis. Nicht für die Guten, sonden für die Schwachen. Die Kinder haben mir eindrücklich klargemacht, was für ein Unrecht in diesem ganzen Zwangslernen steckt. Ihr Leid und ihre Ängste haben mich erreicht, ich habe mich dafür öffnen können. Und ich habe mit Demut vor diesen jungen Menschen gestanden, angesichts meiner Ungeheuerlichkeit. Heiliger Zorn stieg in mir auf! Was ließ sich tun, um das alles zu ändern?