Samstag, 27. Mai 2017

Tränen


















Aus meiner Schatzkiste, Nachdenken und Erleben.

*

Wir sind es gewohnt, große emotionale Geschehnisse bei
den anderen nicht mit Ruhe ansehen zu können. Wenn
der andere sehr heftig reagiert, eilen wir herbei, um ihn zu
beruhigen, etwa wenn er weint. Oder wir beginnen ihn zu
trösten oder von den Dingen zu reden, die Tränen eigent-
lich nicht nötig sein lassen.

In Wirklichkeit geschieht dann, dass wir uns selbst be-
schwichtigen und trösten. Dieses Beschwichtigungs- und
Trostverhalten haben wir der Erwachsenenwelt abgese-
hen, als wir Kinder waren. Wenn wir als junge Menschen
weinten, stürzten die anderen herbei und nahmen sich
unseres Schmerzes an. Was aber bedeutet: Sie nahmen
uns die Oberhoheit über unseren Schmerz. Anscheinend
konnten sie nicht ertragen, dass unsere Tränen flossen,
und sie mussten etwas dagegen unternehmen. Unsere
Tränen gehörten nicht uns. Sie waren etwas Beängstigen-
des für die anderen. Und wenn wir verzweifelt waren,
wurde alles mögliche in Szene gesetzt, damit wir wieder
froh wurden. Unsere Verzweiflung wurde nicht als Reali-
tät akzeptiert, sondern sie wurde wie ein Schmutzfleck
weggeputzt.

Wer seine Selbstliebe wiederfindet, der weiß um den Wert
der Tränen und Verzweiflung von damals. Sie waren offe-
ne Tore zu uns, Rufe, uns selbst, so wie wir wirklich
waren, zu erkennen. Sie waren keine Aufforderung, her-
beizustürzen und von unserer Wirklichkeit, die sich
energievoll Bahn brach, wieder abzulenken. Doch im
Ablenken waren die Erwachsenen geübt, denn sie kann-
ten dies ja aus ihrer eigenen Kindheit: lamentieren, ag-
gressiv reagieren, gutgemeintes »armes Kind«, listige
Beruhigungsmanöver, »ist doch nicht so schlimm«.

Es ging darum, ihre Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.
Unsere Tränen waren letzte Versuche, in das Chaos der
Erwachsenenwelt die Wahrheit und Weisheit unserer
Ordnung zu tragen, die von der Einmaligkeit und Würde
der Person kündet.

Wenn jemand - sei es ein junger oder erwachsener Mensch
- in meiner Gegenwart weint, bin ich nicht mehr aufge-
schreckt in hilfloser Dramatik. Ich kann mit Ruhe, Kon-
zentration, Wärme, ohne Worte, still und energievoll ein-
fach da sein. "Ich bin da. Ich stehe auf Deiner Seite. Ich
mag mich - selbst. Ich mag auch Dich. Ich habe Kraft, Dir
zuzuhören. Deine Tränen verletzen und beunruhigen mich
nicht. Ich kann sie Dir lassen. Nichts muss zerstört wer-
den. Ich höre Dich aus der Tiefe in mir. Ich bin Dir nah"

Diese Reaktion auf die großen Emotionen der anderen
sind geöffnete Tore auch bei uns: auch wir können uns
selbst begegnen. Die Nähe des Weinenden zu sich und
die Nähe des Zuhörenden zu sich sind für beide hilfreich:
Sie spüren, dass sie jetzt einander sehr nah sind, dass ihr
jeweiliges Selbst viel intensiver in Erscheinung tritt als
sonst, und von dieser intensiven Basis sehen sie einander
und stellen sie energievollen Kontakt her.

*

Andi (7) weint. Wir sind in einem Zeltlager, ich bin zu
Besuch. Ich kenne sie erst ein paar Stunden. Die anderen
sind gerade nicht da. Ich knie mich vor sie hin, sie steht drei
Schritte weg. Sie hält die Arme vors Gesicht, sieht ab und zu
her und weint. lch bin ganz konzentriert und rnache mich
auf. Ich höre ihr zu und ich habe Raum in mir für ihre Tränen.

Ich sage mit meinen Augen: "Hallo Andi, ich höre Dir zu
und habe Platz für Deine Tränen. Du kannst mir Dein Leid
erzählen." Sie kommt langsam auf mich zu, bleibt stehen,
sieht her und weint weiter. "Du kannst kommen und Dich in
den Arm nehmen lassen. Du kannst aber auch dort bleiben
und mich zuhören lassen", sage ich ihr mit meinen Augen
und mit meinen Gefühlen aus dem Bauch.

Ich beginne, mich weiter zu ihr fallen zu lassen, sie beginnt,
weiter auf mich zuzugehen. Plötzlich kommt ihre Gruppen-
leiterin - Glas zerbricht, eine Kreissäge kreischt, Singvögel
fallen zu Boden."Wer wird denn weinen", sie nimmt Andis
Hand und zieht sie ins Zelt. Ich bleibe voll Schmerz zurück,
bin ohne Vorwurf. Voll Schmerz über diesen Erwachsenen.