Montag, 8. Mai 2017

Christiane Rochefort


Neben dem Buch von Frédérick Leboyer steht in meinem Bücherregal
"Kinder" von Christiane  Rochefort aus dem Jahr 1978, erschienen in
Frankreich 1976. Ihr Diktum "Kinder sind eine unterdrückte Klasse" will
verstanden sein, darauf gehe ich ein anderes Mal ein. Und ihr Buch "Zum
Glück gehts dem Sommer entgegen" ist ein Klassiker. Heute stelle ich aus
"Kinder" eine subtile Textstelle von ihr vor, ein bisschen zum Reinhören in
sich selbst.

*

Mit sechs Jahren ungefähr wird einem allmählich klar, wo man
hineingeraten ist- eijeijei. Man kapiert, welchen Preis es kostet,
gegen den Strom schwimmen zu wollen. Und welchen Gewinn
man hat, wenn man mitspielt. Man hat gelernt zu rechnen. Kurzum:
man wird allmählich vernünftig - in dem Sinne, wie der Fragende
zum Befragten, der gerade anfängt zu sprechen, sagt: "Ich sehe,
dass du vernünftig wirst." Um zu überleben, um Ärger zu vermeiden,
um Gnade zu finden, um geliebt zu werden, das heißt um der eigenen
Sicherheit willen, muss man sich nach diesem seltsamen Begriff
„Vernunft“ richten. Wird man sich tatsächlich danach richten?

Bis zu ungefähr zehn, zwölf Jahren trifft man eine Wahl, nicht selten
unter heftigen Konflikten. Der Ausgang dieses inneren Kampfes ist
von tausend Faktoren abhängig, unter anderem davon, wieviel man
von seiner ursprünglichen Lebensenergie hinüberretten konnte, außer-
dem von der Art und Stärke des ausgeübten Druckes sowie von dem
Maß an Liebe, die man für seine Eltern empfindet. Dieser Abschnitt
wird vom Psychoanalytiker „Latenzperiode“ genannt. Es wird an-
genommen, dass während dieser Zeit die Sexualität zurücktritt und
das Gedächtnis die Funktion einer Zensur übernimmt.

Die Sexualität muss also wieder mal herhalten, um die gesellschaft-
liche Kausalität zu verschleiern. Wenn diese Experten jemals wirklich
Kinder gewesen wären, dann wüßten sie, dass nichts schwerer zu
ertragen ist als die Niederträchtigkeiten, die zu begehen man gezwungen
war. Erniedrigung, die schweigend geschluckt wurde. Bei Analysen ohne
ödipale Sperre kommt es dann wieder heraus. Es sind keine ruhmreichen
Erinnerungen, und man möchte sie lieber vergessen; man denkt nicht gern
an so klägliche Erlebnisse zurück.

Am wenigsten tun dies edle und stolze Ritter - und alle Kinder sind
Ritter, Mädchen ebenso wie Jungen, solange sie es nicht mit der Angst
zu tun kriegen.

Latenzperiode! Eine Periode der Kapitulation, Vergleichsabschlüsse,
Kompromisse. Daran ändert auch nichts, dass solche durch höhere
Gewalt bewirkt werden: man fühlt sich frei, empfindet das alles nicht
als gewaltsam. Und zu den rasenden Schuldgefühlen, die von den
moralischen Instanzen erzeugt werden, muss noch die Lust am Verrat
hinzukommen. Zum Verrat an etwas Wertvollem, Echtem. Man hat
sich ergeben. Die Erwachsenen ahnen ja nicht, was in den Köpfen und
Seelen von Rittern auf der Suche nach dem Gral vorgeht.