Zwei Dreijährige streiten. Ines reißt Melanie an den Haaren. Melanie beißt. Sie schreien und heulen sich an. Ich bin dabei, knie vor ihnen und sehe sie vor mir. Ich nehme auf, was sie tun, und mein Gesicht drückt aus, dass mich ihr Streit angeht und wie er mich angeht. Ich spüre ihr Leid und das Gewitter ihres Zusammenstoßes. Es geht darum, dass Ines auch mal Melanies Rad benutzen will. »Ist meins«, sagt Melanie, und sie will nicht.
Ich habe keine Aufforderung zum Schlichten erhalten. Weder Ines noch Melanie wenden sich an mich, ihr Problem zu lösen. Und selbstverständlich lasse ich sie ihren Streit führen. Wie hätte ich das Recht, mich in ihre Angelegenheiten einzumischen, unaufgefordert? Ihre Angelegenheiten sind gerade sehr laute Angelegenheiten, mit Schmerz und Leid, Wut, Zorn und Ärger.
Soll ich mich als Oberschiedsrichter betätigen und »Frieden stiften«? Frieden stiften: Ich habe oft genug erlebt, dass »friedenstiftende« Erwachsene ihre Macht ins Spiel brachten, um einen Konflikt zu beenden. Da stoppt jemand mit seinen Machtmitteln – mit lauter Stimme, körperlicher Überlegenheit, psychischem Druck – den Krach der anderen. Er wird aggressiv, um Aggressivität zu beenden. Er führt den Superkrieg, um den Krieg der Kleinen zu befrieden. »Alles hört auf mein Kommando« – die Ordnungsmacht hat gesprochen. Wer sich so den Kindern gegenüber verhält, sollte sich im klaren darüber sein, dass er den Kindern vorlebt: Mit Herrschaft und noch mehr Aggressivität und Macht kann man einen Konflikt beenden. So ein Erwachsener stiftet nicht Frieden, sondern er stiftet zum nächsten Krieg an.
Ich will uns Erwachsenen dies nicht zum Vorwurf machen. Wir sind schließlich in einer Tradition des erzieherischen Befriedens groß geworden. Wir haben Angst vor aggressiven Auseinandersetzungen und wünschen uns den Frieden so sehr, dass wir auch schnell bereit sind, ihn mit kriegerischen Mitteln herzustellen. Unsere Angst und Unfähigkeit, aggressive Konflikte als menschliche Realität zu akzeptieren, macht uns hilflos und uneffektiv.
In der Amication wird erkannt, dass Kinder mit ihrem Streit leben können – schlicht und einfach. Streit wird nicht zu dem Problem, das Erwachsene darin sehen. Mit einer amicativen Einstellung kann man von den Kindern den unverkrampften Umgang mit dem Streit wieder entdecken, wie man ihn selbst als Kind praktiziert hat, und man hat die Möglichkeit, sich nicht in ihren Streit einzumischen.
Wenn ich mich so vor Ines und Melanie hinknie und »da bin« (emotional und konzentriert anwesend bin), dann bringe ich ein, was ich an friedenstiftenden Dingen geben kann: »Ich mag euch. Jeden von euch. Ich mag euch, auch wenn ihr streitet.« Und ich bin schon ein Stück weiter: » Ich mag Euch – ob Ihr streitet oder nicht streitet. Es ist nicht wichtig für das Mögen, was Ihr tut: streiten oder nicht streiten. Ich mag Euch ohne Vorbedingungen. Ich mag Euch als Streitende und als Nichtstreitende, wie es kommt.« Ich habe Platz in mir für ihre Aggressivität, die mir in den Ohren gellt. Und für ihre Wut und ihren Zorn, die in mir tiefe Gefühle aufrühren. Ich lasse mich auf ihren Streit auch mit meinem Gefühl ein, dies verwirrt mich nicht. Ihr Geschrei, ihr Weinen und ihre Tränen sind für mich nicht das Signal, besorgt und angstvoll einzugreifen. Im Zusammensein mit den Kindern entdecke ich dies wieder: Sie vertrauen mir ihren Streit an, ihre Tränen und ihre Wut. Es ist ein kostbares Anvertrauen. Und nicht geeignet für »befriedendes Helfen«.
Kinder lösen ihre Konflikte ohne Erwachsenenhilfe. Da gibt es Niederlagen und Siege und Einigungen. Wie es eben kommt. Das Verlieren enthält keine Dramatik, das Gewinnen auch nicht. Es kommt und geht, und schon kommt Neues. Ihre Grundeinstellung dem Konflikt gegenüber ist von anderer Art als unsere Erwachseneneinstellung hierzu.
Für den Erwachsenen gibt es in der Amication den streitenden Kindern gegenüber eine freundliche Neutralität. Neutral: Erwachsene mischen sich nicht in die streitenden Angelegenheiten von Kindern ein. (Es sei denn, man kann ihren Streit nicht mehr mit ansehen, er ist zu wild, zu ungerecht, zu gefährlich, was auch immer. Doch was sich dann tun lässt, ist ein anders Thema.) Freundlich: Erwachsene stehen nicht abseits, sondern sie fühlen sich in die Situation einbezogen, sie sind konzentriert und gefühlsmäßig präsent. Sie sind da für die eventuelle Ansprache der Kinder: »Hilf mir« – »Ich mische mich nicht ein« – »Was können wir machen (um uns zu einigen)?« – »Ich schlage vor...« – »Der ist so gemein« – »Ja (ich spüre Deinen Ärger und Zorn)«. Und: Es gibt keine bösen Streiter. Der Schuldvorwurf hat in der Amication nichts verloren, auch nicht, wenn Kinder streiten.
Nachdem Ines das Rad nicht bekam, lief sie aus dem Hof in den Garten. Ich war mit Melanie allein. Sie sah mich an und ich merkte, dass sie das kannte: Die Angst, etwas angerichtet zu haben und bestraft zu werden. »He, Du, hallo«, sagte ich und sah sie warm und aufmerksam an. In ihren Augen lebte das Vertrauen zu mir, und sie wandte sich um und ihrem Rad zu. Ich ging zu Ines, setzte mich in ihre Nähe und sprach sie nicht an. Wozu etwas sagen? Ich brachte ihr Wichtigeres als Gerede mit: Mein »Ich bin da und habe Zeit für Dich«. Sie sah, dass ich gekommen war, kam aber nicht zu mir und sah auch nicht zu mir hin. Ich setze mich an den Zaun und dachte über dies und das nach. »Schaukelst Du mich?« Das Leben geht undramatisch weiter, wenn wir seine Erscheinungen akzeptieren und kein Drama daraus machen.