Mittwoch, 14. Dezember 2016

2050, 2100, 2200? II


Heute kommt die Fortsetzung des Posts zur Schule vom 12.12.

Im Unterschied zu früher (vor 30 Jahren) ist es heute politisch korrekt, nicht mehr konfrontativ vorzugehen. "Schule ist Kindesmisshandlung und missachtet das Menschenrecht auf Gedankenfreiheit" - das hatte ich mal hinten in das Rückfenster meines Autos montiert. Ausgeheckt mit Raja, 14 Jahre alt. Es kam unterschiedlich an! Nein, heute sollen die Adressaten (Eltern, Lehrer) warmherzig und einfühlsam angesprochen werden. So, dass sie nicht sofort zumachen. Doch ehrlich, ich frage mich: Könnte ich wirklich einen Kindes-
misshandler/missbraucher/schänder warmherzig und einfühlsam ansprechen? Ich fühl mich auch dem Klartext im Wort. Nur: wenn das niemand hören will? Weil er doch so ein netter Lehrer oder Onkel ist und weil die Schule doch so gut für die Kinder ist? Lieber soft ranpirschen an das Ungeheurliche? Wie sag ich dem Fleischesser, dass er mit seiner Fleischesserei Tierleid befördert und Qualfleisch frisst, dem Milchtrinker, dass er Kuhmütter missbraucht, die ja wegen seiner Michsauferei einen widernatürlichen Dauermilch-
produktionsstress unterworfen werden? Wie sag ich's also der Lehrerschaft und dem ganzen pädagogisch-industrieellen Komplex (von Lehrern bis zu Schulmöbelherstellern)? So, dass ein Aufmerken, eine Sensibilität, ein Bewußtsein von dem Unrecht entstehen kann, könnte, das durch sie kommt? Gedankenfreiheit für Kinder ... so weitweitweit. Doch schau'n wir mal! Jetzt geht's weiter mit dem Text aus meinem Buch "Schule mit menschlichem Antlitz".

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Die Abschaffung der Schulpflicht bedeutet das Ende des Lernzwangs und das Ende der
heutigen Schule. Doch die Gebäude lassen sich weiter nutzen, und das Personal, die Lehrer, können eine wichtige neue Aufgabe übernehmen. Was sollte die Kinder denn davon abhalten, in Gebäude voller Ressourcen zu gehen, wenn sie dies nicht müssen und wenn sie niemand daran hindern darf? Wenn es dort freundliche und achtungsvolle Leute gibt, die für sie da sind, als Personen und fachliche Experten? Deren Angebote interessant, ja faszinierend sind? Lernen ohne Sollen öffnet das Tor, das Schultor, hinter dem die Kinder heute gefangen sind.

Ob sie jemals wieder einen Fuß durch dieses Tor setzen werden, wenn sie es nicht mehr müssen, wird von vielem abhängen. Die Erwachsenen werden sich schon anstrengen müssen, wenn sie etwas von ihrem Wissen von der Welt weitergeben wollen. Aber nur so wird es gehen: Das Angebot einer neuartigen Schule steht in Konkurrenz zu allem anderen, was sich den Kindern anbietet, wenn die Schulpflicht aufgehoben ist.

Die Abschaffung des Zwangslernens vergrößert die Basis der Demokratie: junge Menschen werden als vollwertige Burger - als Bürger, die über ihr Denken und Lernen selbst bestimmen - in der Gesellschaft willkommen geheißen. Wenn in der Aufhebung der Schulpflicht eine Gefahr für Kinder gesehen wird (Kinderarbeit, Ausbeutung u. a.), dann kann man etwas dagegen tun. Begleitende Gesetze sorgen dafür, dass das Recht der Kinder, über ihr Lernen selbst zu bestimmen, nicht zu ihrem Nachteil wird. "Wer ein Kind gegen seinen Willen... wird bestraft." Unzählige solcher Schutzbestimmungen lassen sich ersinnen und in Gesetze fassen. Und bei entsprechendem gesellschaftlichen Willen auch effektiv durchführen. Den Kindern das Recht auf selbstbestimmtes Lernen zu ihrem Schutz zu nehmen ~ diese Verdrehung ist gänzlich überflüssig.

Die Schulpflicht wird nicht morgen und auch nicht übermorgen aufgehoben. Sie wird erst dann beendet sein, wenn hierüber ein gesellschaftlicher Konsens besteht. In den Parlamenten der Bundesländer muss es dafür jeweils eine Mehrheit geben, und ein solches Gesetz muss vor dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben. Wann wird das sein? Unzählige Diskussionen werden vorausgehen, auf allen Ebenen, kreuz und quer durch die Gesellschaft. Die anthropologische Grundlage, das Menschenbild vom Kind, wird sich ändern müssen. Der gesamte Umgang mit Kindern wird sich wandeln, bevor die Schulpflicht als Konsequenz aus dieser grundsätzlichen Veränderung von selbst aufgehoben wird.

Wann wird das sein? ln wie vielen Generationen? lm Jahr 2050, 2100, 2200? Irgendwann fängt jede Veränderung an, und die Veränderung hin zum Lernen ohne Sollen fängt jetzt an. Wenn die gesellschaftliche Situation so weit ist, dass allen Ernstes über die Aufhebung der Schulpflicht nachgedacht wird, wird es auf alle Fragen gute und überzeugende Antworten geben. Wir können nicht heute an einem einzigen Tag die Denkleistung eines halben oder ganzen Jahrhunderts zustande bringen. Eine Reise von tausen Meilen beginnt mit einem Schritt, sagt Lao Tse.

Die Vorstellung von einem Lernen ohne Sollen ist aber heute kaum vorhanden, denn als Kind erfuhr ein jeder, dass Lernen stets mit Sollen einhergeht. Dass Lernen und Sollen eine Einheit bilden, wurde 10 lange Schuljahre gelernt. Das muss so sein. Kinder müssen zur Schule, sonst lernen sie nichts. Die Anmaßung und Menschenrechtsverletzung, die ein solcher Satz enthält, ist schwer zu erkennen und schwer zu erfühlen. Und doch kommt es gerade darauf an. Wie könnte es gelingen, das Nicht-mehr-Erkennen und das Nicht-mehr-Fühlen zu überwinden? Es gibt sicher viele Wege hierzu, und ich unternehme jetzt gleich einen Versuch: Ich will mit den folgenden drei Bildern helfen, die verlorengegangene Sensibilität für die Würde des jungen Menschen und sein Recht auf selbstbestimmtes Lernen wiederzufinden. Die Bilder sind mit Worten gemalt, mit Tusche, als Aquarell und in Öl auf Holz.

Fortsetzung folgt

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Wenn ich diesen oder ähnliche Texte veröffentliche, die sich grundsätzlich mit der Schulthematik befassen, frage ich mich natürlich, ob das irgendeinen positiven Effekt hat. Doch, ich sehe so etwas: Ein bisschen Sensibilisieren für das Ungute an der Schule, ein bisschen Heilen der damaligen Demütigungen (dadurch, dass mit meinen Gedanken das Unrecht als solches erkennbar und benennbar wird), ein bisschen Entspannen, wenn die schulischen Anforderungen so alternativlos und selbstverständlich daherkommen, ein bisschen Mutmachen, Gedanken in eine freiheitlichere Richtung zu wagen, ein bisschen Runterkommen vom Hinterherhetzen hinter dem, was "die Schule" so alles von den Kindern und uns Eltern will. Halt ein bisschen...