Donnerstag, 4. Mai 2017

Frédérick Leboyer


Bis vor nicht allzu langer Zeit fühlten sich bei einer Geburt die
beteiligten Erwachsenen zuständig dafür zu sorgen, dass die
Babys sich auf die Luftatmung umstellen. Hierfür waren sie
sich verantwortlich. Die Babys waren dies nicht.

In meinen Vorträgen gibt es eine Passage, in der ich von den ersten
Atemzügen der Babys erzähle. Die sie direkt nach der Geburt in
eigener Regie tun - wenn wir sie dies denn tun lassen und sie dabei
nicht stören. Aus lauter Sorge, sie könnten ohne unser Eingreifen zu
Schaden kommen. Stören, in dem wir ihnen das Heft aus der Hand
nehmen und sie zum Atmen veranlassen, drängen, zwingen - aus 
unserer Verantwortung heraus, wie wir meinen, und die die Babys
nicht für sich haben.

Doch das "selbstverantwortlich von Anfang an" wird in der Geburts-
situation sehr anschaulich und konkret. Wenn ich davon erzähle, dass
die Babys sich sehr wohl allein, in eigener Verantwortung auf die Luft-
atmung umstellen können, sind meine Zuhörer gebannt und angerührt.

Neulich habe ich das Buch "Geburt ohne Gewalt" von Frédérick
Leboyer aus dem Jahr 1974 wieder einmal in der Hand gehabt und
die wahrhaft revolutionäre Stelle nachgelesen. Hier ist sie:


*

Die Hauptgefahr für das Kind während der Geburt besteht in der
Anoxie, das kann nicht genug betont werden. Anoxie bedeutet
Mangel an Sauerstoff, und besonders das Nervengewebe reagiert
darauf äußerst empfindlich. Wenn ein Kind vorübergehend zu wenig
Sauerstoff erhält, so führt das zu irreparablen Schäden im Gehirn, die
es möglicherweise sein Leben lang zum Krüppel machen. Mit anderen
Worten: das Kind darf unter keinen Umständen, zu keinem Zeitpunkt
der Geburt in einen Sauerstoffmangel geraten. Nicht einmal für kurze Zeit.
So sagen die Experten, und sie haben recht.

So sagt es auch die Natur.

Darum hat sie es so eingerichtet, daß das Kind in der gefährlichsten
Phase unmittelbar nach der Geburt aus zwei Quellen Sauerstoff
erhält: aus seinen Lungen und aus der Nabelschnur. Beide Systeme
arbeiten gleichzeitig, allmählich löst eins das andere ab: das alte, die
Nabelschnur, versorgt das Kind noch so lange ausreichend mit Sau-
erstoff, bis das neue, die Lungen, diese Funktion in ausreichendem
Maße übemehmen können.

So bleibt das Kind, das eben erst den Mutterleib verlassen hat, noch
einige Minuten lang durch die kräftig pulsierende Nabelschnur mit ihr
verbunden. Vier, fünf Minuten, manchmal noch länger.

Der Sauerstoff, den es weiterhin über die Nabelschnur erhält,
schützt es vor Anoxie, so dass es gefahrlos und ohne Schaden zu
nehmen in aller Ruhe mit dem Atmen beginnen kann, langsam und
ohne etwas zu überstürzen. Das Blut hat Zeit, nach und nach die
alte Bahn zu verlassen (die zur Placenta führte) und zunehmend
die Lungenstrombahn zu entfalten.

*

Wie kommt es zu dem ersten Schrei?

Wenn das Kind herauskommt, wird der Brustkorb, der bis dahin
aufs Äußerste zusammengepreßt war, plötzlich durch nichts mehr
eingeengt und öffnet sich. Es entsteht eine Leere, in die die Luft
sogleich mit Wucht eindringt. Es ist ein passiver Vorgang. Das ist
der erste Atemzug.
Das ist die Verbrennung.
Das Kind beantwortet diese Verletzung, indem es ausatmet.
Zornig jagt es die Luft wieder hinaus.
Das ist der Schrei.

Danach ist es oftmals eine Weile still. Erstarrt vor Schmerz macht
das Kind eine Pause. Manchmal wiederholt sich der Schrei auch
zwei, drei Mal, bevor die Pause eintritt.

Wenn wir ihm Zeit zu einer Pause lassen.

Meistens verlieren wir hier die Nerven, und dann gibt es gewöhnlich
Ohrfeigen, Poklatschen und kaltes Wasser.

Doch inzwischen haben wir dazugelernt und können unsere
Impulse beherrschen. Wenn wir der Natur und den kräftigen
Pulsationen der Nabelschnur vertrauen, brauchen wir uns nicht
einzumischen. Wir werden sehen  dass die Atmung von allein
wieder einsetzt. Zunächst zögemd, vorsichtig, immer noch mit
kleinen Pausen.

Das Kind, das von der Nabelschnur noch Sauerstoff erhält,
nimmt sich Zeit und nur so viel von der feurigen Luft, wie es
ertragen kann. Es hält ein, beginnt von Neuem. Es gewöhnt sich
langsam und atmet tiefer. Bald findet es Gefallen an dem, was
eben noch grausam und verletzend war.

*

Wenn die Nabelschnur aufhört zu pulsieren, schneiden wir sie
durch. Kein Schrei, keine Bewegung, nicht einmal ein Zittem
kommt von dem Kind. In Wirklichkeit haben wir nichts durch-
trennt. Ein totes Band ist abgefallen Das Kind wurde nicht von
seiner Mutter fortgerissen. Sie haben sich voneinander gelöst.

Wie wohltuend, wie einleuchtend ist eine solche Geburt. Die
Mutter hat ihr Kind noch ein Stück begleitet. Indem sie ihm über
die Nabelschnur noch weiterhin Sauerstoff zukommen ließ, hat
sie ihm geholfen, seine ersten Schritte in dieser furchterregenden
Welt zu machen.

Ähnlich wird es später sein, wenn das Kind laufen lernt und die
Mutter ihm eine Hand anbietet, an der es sich festhalten kann.
Eine geöffnete Hand, die das Kind ergreifen und wieder loslassen
kann, in dem Maße wie es seiner eigenen Kraft vertraut.