Donnerstag, 3. November 2016

Das Herz des Lehrers

Noch einmal Thema Schule. "Mit welchem Recht?" kommt schon sehr deutlich daher, und es wird ja auch unterschiedlich wahrgenommen: als liebevolle, die Hand auf den Arm legende Mahnung bis hin zum wütenden und verzweifelten Aufschrei. Da sucht sich jeder seine Resonanz aus, von Nachdenklichkeit über Betroffenheit bis zu Schuldgefühlen. Im dritten Post schreibe ich etwas über Lehrer, die um diese Dinge wissen und weiter in der Schule arbeiten wollen.

Lieber Lehrer, liebe Lehrerin:

Wenn man schon in der Schule als Lehrer arbeitet, dann kann man das mit dem klaren Bewußtsein von dem tun, was man dort anstellt. Das Wissen davon, dass man Unrecht tut, und dass man es als solches erkennt, teilt sich den Kindern ohne Worte mit. Die Haltung eines Lehrers, der weiß, was er tut, ist eine andere als die eines Lehrers, der mit einer imperialen, die Wirklichkeit verschleiernden Haltung vor die Kinder tritt. Auf die stumme Frage der Kinder "Warum tust Du das?", kann er antworten, ebenfalls ohne Worte:

"Ich weiß es nicht so genau. Vielleicht wegen meiner Biographie. Meiner Naivität. Weil ich die Zusammenhänge anders gesehen hatte und nun nicht aussteigen will. Wegen der vielen Vorteile: Geld, Macht, Arbeitsplatz, Pension, Urlaub. Wegen meiner Ideale, meiner Liebe zu Kindern, zum Frieden. Vielleicht wollte ich zur Entwicklung der Gesellschaft und der Menschheit beitragen. Aber jetzt sehe ich: Ich tue Euch Unrecht. Ich weiß es, und ich verschleiere es nicht. Ich sage nicht, dass das alles zu Eurem Besten ist. Ich lasse Euch in die Wahrheit meines Herzens sehen."

Die Kinder reagieren: "Er ist ehrlich. Er tut dasselbe wie die anderen Lehrer, aber es fühlt sich anders an. Das Leid, das von ihm ausgeht, hat nicht diese Wucht. Er achtet uns als vollwertige Menschen, auch wenn er uns und unsere Rechte unterdrückt." Die Zerrissenheit, stets um das Unrecht zu wissen, das man tut, es zu verabscheuen und nicht tun zu wollen, und es im gleichen Atemzug aber doch konkret zu tun, kompromisslos und entschieden zu tun, hat auch etwas Komisches und Befreiendes: Der Schleier vor der Macht ist zerrissen, sie ist ungeschminkt zu erkennen. Das, was geschieht, unterliegt nicht länger einem Tabu, gleichsam gottgewollt, unhinterfragbar, sondern wird bei aller Unrechtmäßigkeit und Belastung verständlich, überdenkbar, kritisierbar. Genau solche Prozesse löst dieser Lehrer mit seiner Wahrhaftigkeit aus, und genau das spüren die Kinder, und genau das hilft und heilt.

Lehrer mit dem Bewußtsein von den Menschenrechtsverletzungen, die von ihnen ausgehen, sind eine große Hoffnung für die Kinder. Sie sind nicht nur die, die den Gedanken an den einstigen Sturz der Schule verkörpern und ihn eines Tages mittragen werden. Sie sind vor allem diejenigen, die hier und heute Gleichwertigkeit und Personalität zur unausgesprochenen Grundlage der Lehrer-Schüler-Beziehung machen. Durch sie wird die Achtung vor der Würde des Schulkindes immer wieder eine konkrete und eindringliche Erfahrung.

Diese Lehrer haben eine spezifische achtungsvolle Ausstrahlung. Diese Lehrer lassen Fünfe grade sein. Diese Lehrer geben zu verstehen, dass sie Noten geben müssen, und dass diese Noten niemals etwas mit dem Wert der Kinder, sondern nur etwas mit dem Schulmaßstab zu tun haben. Diese Lehrer sind darüberhinaus eine klare Orientierung, denn sie stehen für sich selbst ein, lassen sich nicht auf der Nase herumtanzen, sind nicht falsch verstanden kinderfreundlich. Sie sind Lehrer mit all diesen Schul-Dingen, adultistische Missionare, aber solche, die die Würde der Kinder nicht aus dem Auge verlieren. Diese Lehrer haben eine von innen kommende Autorität, die sich nichts anmaßt.

Diese Lehrer haben etwas von der Harmonie wiedergefunden, von dem inneren Gleichgewicht, das sie nicht wirklich über die Kinder stellt. Sie stehen über den Kindern nur aufgrund der Struktur, die das von ihnen verlangt. In ihrem Herzen sind diese Lehrer auf einer gleichwertigen Ebene mit den Kindern, und sie geben der Schule, was der Schule ist, ohne Verbrämung, Pathos und Schönrednerei. Diese Lehrer haben sich dadurch, dass sie erkennen, was sie tun, auch zu sich selbst befreit, und ihre Persönlichkeit ist ohne Realitätsverlust und ohne Lüge.

Ein Lehrer, der diese Zusammenhänge erkennt, kann durch die Entschleierung der Realität und durch die Aufdeckung der Lüge sich selbst wieder im Mittelpunkt seines Lebens sehen, auch seines Lebens in der Schule. Er ist zunächst nicht für die Kinder da - er ist zuallererst für sich selbst da, verantwortlich für das großgewordene Kind, das er ist. Und er kümmert sich vor allem um dieses Kind: um sich selbst. Mithin ist er das 31. Kind in der Klasse, und bevor er sich den 30 anderen zuwendet, sorgt er für sich. Zum Beispiel dafür, dass es keine Grenzüberschreitung gibt, und zwar ihm gegenüber. Wenn Worte und Erklärungen nicht reichen, wenn Bitten und Ermahnungen nicht helfen, greift er energisch zu den Abscheulichkeiten, die die Schule zu seinem Schutz aufbietet: Lärm - wird im Keim erstickt. Keine Hausaufgaben - die Daumenschrauben werden angelegt. Ungehörigkeiten - es geht den Strafkatalog rauf und runter. Er setzt dann Autorität für sich ein, nicht aber gegen die Kinder. Und genau das nimmt seiner Aktion das Gift und macht sie erfolgreich.

Dieser Lehrer setzt sich für sich ein und dafür, dass er an seinem Arbeitsplatz zurechtkommt. Auch dadurch, dass er die Kollegen nicht durch zu viele Zugeständnisse an die Kinder gegen sich aufbringt.
Er behält die Übersicht. Er weiß, wo er gelandet ist, und seine befreite Sicht berwirkt nicht einen neuen Realitätsverlust: Er ist in einer Schule, nirgendwo sonst. Er wahrt die Balance zwischen den unzweifelhaft berechtigten Wünschen der Kinder, als vollwertige Menschen behandelt zu werden, einerseits, und den alltäglichen Anforderungen der heutigen Schule und seiner konkreten Arbeitssituation andererseits. Dieser Lehrer ist realistisch, aufgeklärt und so einfühlsam und hilfreich, wie er sich das in Abschätzung aller Möglichkeiten leisten kann. Er transportiert Humanität und Freundlichkeit offen oder auch auf Schleichwegen ins Klassenzimmer, so wie es kommt, flexibel, ohne sich unter Druck zu setzen, ohne Stress. Seine Klarheit befrei ihn auch hier.

Ein solcher Lehrer weiß auch, dass er die Schule jederzeit verlassen kann. Wenn er jedoch bleibt, hält er sie aus, und auch das, was er dort tut. Und warum sollte er die Schule auch verlassen? "Wenn Du gehst, kommt Herr Meier an Deiner Stelle, das wollen wir nicht": Das Votum der Kinder ist eindeutig. Und bei allem Leid, das von ihm kommt, fühlen sie sich doch von ihm gestützt und geachtet. Die Botschaft, die von diesem Lehrer ausgeht, ist eine machtvolle, in Untergrund und im Herzen wirkende Strömung: "Ich bin ein vollwertiger Mensch von Anfang an - so wie Ihr auch. Ich glaube an mich - so wie auch Ihr an Euch glauben könnt. Ich liebe mich so wie ich bin - so wie auch Ihr Euch lieben könnt, wie immer Ihr seid."