Samstag, 12. November 2016
Maria Montessoris Mission
Vor einiger Zeit wurde ich einem Interview gefragt, wie ich zu Maria
Montessori stehe. In diesem und dem nächsten Post stelle ich das
Interview vor. Und ich freue mich über Rückmeldungen.
Frage
»Hilf mir, es selbst zu tun« - Herr Dr. von Schoenebeck, Sie haben als
Lehrer in der Schule gearbeitet. War dieses Grundprinzip der
Montessori-Pädagogik für Sie wichtig?
Antwort
Nur dann, wenn die Kinder mich so etwas konkret gefragt haben. Die
Montessori-Pädagogik ist eine Pädagogik, und von daher für mich
Fremdland. Denn die Grundposition jeglicher Erziehung und Pädagogik
- die Homo-educandus-Hypothese und die daraus resultierende Verant-
wortung des Erwachsenen für das Kind - teile ich nicht. Für mich sind
Kinder vollwertige Menschen von Anfang an, sie werden nicht erst
vollwertige Menschen im Laufe der Kindheit. Sie sind von Geburt an
für sich selbst verantwortlich, dies erkenne und achte ich, und
deswegen bin ich auch nicht für sie verantwortlich. Wiewohl Maria
Montessori als pädagogischer Mensch sich sehr wohl für Kinder
verantwortlich fühlt. Ich kann mir aus meiner amicativen Position alle
Erkenntnisse, Konzepte und Vorschläge der pädagogischen Welt
ansehen und entscheide dann, was ich davon in meine Kommunikation
mit den Kindem übernehmen oder abgewandelt übernehmen will.
»Hilf mir, es selbst zu tun« finde ich viel zu theatralisch, so etwas ist
doch selbstverständlich. Warum macht Maria Montessori so eine
Banalität zum Prinzip? Das ist mir unklar. Wenn die Kinder meine Hilfe
zur Selbsthilfe wollen, dann bin ich für sie da.
Frage
Maria Montessori sagt, dass die Schule eine Lebensstätte ist und
dass der Lehrer eine Mission, ein schweres Amt hat, der Diener des
Kindes zu werden. Haben Sie Ihre Lehrerrolle auch so verstanden?
Antwort
Die Schule ist für die Kinder keine freiwillige Sache. Die Kinder werden
nicht gefragt, ob sie überhaupt dorthin wollen; es besteht gesetzlicher
Schulzwang. Wie kann etwas, das einem oktroyiert wird, eine ››Lebens-
stätte« sein? Die Schule ist für die Kinder ein Teilzeitgefängnis, in dem
die Erwachsenen sich herausnehmen, sie zum wahren Menschen zu
formen. Eine Stätte, in der man sich wohlfült und gern auflıält, ist so
etwa nicht. Pädagogische Menschen wie Maria Montessori themati-
sieren diesen Zusammenhang nicht, da sie von der Notwendigkeit der
Erziehung für die Menschwerdung des Kindes überzeugt sind. Und von
diesem Denken her kann man es den Kindern dann schön einrichten,
eben eine ››Lebensstätte« schaffen wollen. Die grundsätzliche In-
humanität und die kulturimperialistische Position, die hierin verborgen
sind, lassen sich erst mit amicativem Denken erkennen.
Ich bin niemandes Diener, ich gehöre mir selbst. Von dieser meiner
souveränen Position aus gehe ich zu anderen Menschen, auch zu
Kindern. Dann werden wir sehen, was wir miteinander tun können.
Wır begegnen uns authentisch: Hubertus als Person mit seinen
Facetten, die Kinder als jeweilige Person mit ihren Facetten.
››Dienen« ist da unpassend. Wenn ich Kindern helfe, sie anleite,
etwas erkläre, dann tue ich das ohne die Attitüde des Dienens.
Außerdem: Ein Erwachsener ist niemals wirklich der Diener
eines Kindes (es sei denn bei Königs). So etwas ist doch letztlich
nur methodisch, ein Trick oder eine List, um die Kinder dahin zu
bekommen, wohin man sie haben will. Und um es sich schönzureden,
dass man doch so großherzig ist, ihnen zu dienen. Dieses »Diener
des Kindes« ist ein Teil des Montessori-Konzepts, mit dem
verschleiert wird, was in der Schule tatsächlich geschieht: die
kulturelle Unterwerfung der nachwachsenden Generation unter die
Standards der herrschenden Erwachsenen.
Frage
Maria Montessori sagt: ›››Dem Leben helfen« ist das erste funda-
mentale Prinzip.«- Wie verstehen Sie als ehemaliger Lehrer diese
Aussage?
Antwort
Jede Beziehung kann etwas mit Helfen zu tun haben, muss es aber
nicht. Wenn ich mit Kindern zusammen bin - auch als Lehrer -,
findet Kommunikation statt. Ob unsere Beziehung dann hilfreich
sein wird für die Kinder und/oder für mich, wird sich zeigen. Ich
setze mich in meiner Beziehung mit Kindem nicht unter den Druck,
hilfreich sein zu sollen. Wenn Hilfreiches geschieht, ist dies ein
Geschenk des Lebens, das sich zwischen uns ereignet, und darüber
freue ich mich und bin dankbar. Aber ich instrumentalisiere diese
Großartigkeit »Helfen« nicht zu einem Prinzip. Es hört sich gut an,
Helfen zu einem Prinzip zu machen, aber ich sehe darin eine subtile
Destruktivtät. Denn Helfen als Prinzip missachtet das Prinzip der
Realität, das Prinzip des »Es soll« wird an die Stelle des Prinzips
des »Es ist« gesetzt. Ich bin real-existentiell präsent, Maria
Montessori ist moralisch-missionarisch präsent. Was angemessener
ist, lässt sich nicht objektiv entscheiden, ich sehe das so, Maria
Montessori anders. lm übrigen, es tut mirleid, ist diese Aussage
schon wieder für meine Ohren nicht akzeptabel. Ich würde mir nie
einfallen lassen, einer solchen Wırkmacht wie dem Leben helfen
zu wollen - ganz andersherum wird ein Schuh draus: ich freue mich,
wenn das Leben mir hilft!