Dienstag, 29. November 2016
Ciao, pädagogisches Tabu
Fortsetzung vom 27.11.
Wie kommt es, dass wir uns die Frage nach der Selbstverantwortung
des Kindes nicht stellen? Die einfachste Antwort darauf ist, dass es
eben eine völlig sinnlose Frage ist. Denn da Kinder nicht Verantwor-
tung für sich übernehmen können, braucht man auch nicht danach zu
fragen. Ja, eine Frage danach wäre ein unsinniger Gedanke, so, wie
wenn man etwas sieht, das gar nicht existiert. Diese Antwort wird
uns von dem traditionellen Umgang mit Kindern gegeben und von
der zugehörigen Wissenschaft, der Pädagogik. Es ist so, dass sich
diese Lehre vom Umgang mit Kindern auf Sätzen wie diesen aufbaut:
"Kinder können nicht wissen, was für sie gut ist." "Kinder können
keine Verantwortung für sich übernehmen." "Erwachsene tragen für
Kinder die Verantwortung." Man schiebt dann ein "noch" ein: Die
Kinder können es noch nicht. Erst, wenn sie gelernt haben, selbst-
verantwortlich zu sein, erst wenn sie reif genug und erwachsen sind,
werden sie selbstverantwortliche Menschen sein können.
Die traditionelle Haltung ist von einem Tabu geprägt: "Erkenne nicht
die Fähigkeit des jungen Menschen, Verantwortung für sich über-
nehmen zu können." Es ist wie mit einem Bann belegt, dies zu bemer-
ken und darüber nachzudenken. Wie entstand das pädagogische Tabu?
Wie konnte es geschehen, dass den Erwachsenen die Selbstverantwor-
tungsfähigkeit des jungen Menschen in Vergessenheit geriet? Nun, der
Umgang mit Kindern ist tief in einer Haltung verwurzelt, in der Menschen
sich berechtigt fühlen, über andere Menschen Herrschaft auszuüben.
Die Position, die Kindern die eigene Verantwortung abspricht und
stattdessen Erwachsenen die Verantwortung zuspricht kommt aus
dieser Herrschaftstradition, aus dem jahrtausendealten Patriarchat.
Doch das patriarchalische Leitbild des Herrschens ist heute für viele
vorbei. Der Prozess der Herrschaftsüberwindung drückt sich in den
großen Befreiungsbewegungen der Menschheit aus - und jetzt wird
auch der Umgang mit Kindern davon erfasst. In den beiden letzten hun-
dert Jahren gab es das Ende der Folter, die Aufhebung der Leibeigen-
schaft, die Sklavenbefreiung, die Frauenemanzipation, die Befreiung
aus absolutistischen Zwängen hin zur Demokratie, den Antirassismus,
die Entkolonialisierung und das Ende der kommunistischen Diktatur.
Und nun beginnt die Befreiung des Kindes vom Verantwortungsdenken
und dem Herrschaftsdenken der Erwachsenen. Wer in die Geschichte
blickt, erkennt, dass die Idee der Herrschaft des Menschen über den
Menschen immer mehr zurückgedrängt wird.
Wenn man andere unterwerfen will, dann ist es die sicherste Methode,
wenn diese selbst daran glauben, dass es für sie richtig ist, beherrscht
zu werden. Und genau so wird mit uns verfahren. Als Kinder bekommen
wir unser ganzes Kinderleben lang gezeigt, dass es unumgänglich ist,
wenn andere - Erwachsene - uns führen, über uns bestimmen, sich für
uns verantwortlich fühlen, uns die Verantwortung abnehmen. "Zu un-
serem eigenen Besten."
Das pädagogische Tabu wird von den Erwachsenen nicht gespürt, die
ein erzieherisches Selbstverständnis und einen pädagogischen An-
spruch haben. Sie sind erfüllt von dem "Ich weiß, was für Kinder gut
ist", sie fühlen sich für die Kinder verantwortlich und bestimmen über
sie "zu ihrem Besten". Sie verstehen deswegen zunächst nicht, wovon
die Rede ist, wenn man die Selbstverantwortung des Kindes ins Ge-
spräch bringt.
Es gibt dann entrüstete Proteste. Wie stets, wenn man an ein Tabu
rührt. "Sie wollen damit doch nur provozieren, auf Kosten der Kinder."
Diese Erwachsenen haben ihr Zusammenleben mit Kindern an diesem
Tabu ausgerichtet, und sie fühlen sich tatsächlich verantwortlich für
Kinder. Lassen sie sich dennoch gewinnen? Gewinnen womit? Enttabui-
sierung ist ein schmerzlicher Prozess. Man muss ja etwas aufgeben, was
bisher unverrückbar zum Selbstverständnis und Weltbild gehört. Es
stürzt etwas ein - wie wird das Neue sein? Es muss eine sinnvolle und
befriedigende Alternative geben.
Fortsetzung folgt.