Der Kletterbaum ist eine
alte Eiche mit wunderschönen Kletterästen. Für große und für
kleine Kinder. Ylvi ist 4, wir kommen zum Kletterbaum. Der Stamm ist
für das Kind zu mächtig, die Äste sind unerreichbar. „Ich komm
nicht dran.“ Ich bekomme das mit, bin aber im Gespräch mit ihrer
Mutter Anna Maria. Auch sie bekommt das mit, ist aber im Gespräch mit
mir. Ylvis Tonlage ist deutlich. Sie will nicht den Baum, denke ich,
sie will Kletter-Event. Meine Wahrnehmung. In Resonanz mit ihren
Tönen aus dem Anspruchsland.
Wir Erwachsene sehen uns
kurz an und setzen unser Gespräch fort. Ylvi hängt irgendwie am
Stamm fest, kein Ast erreichbar, zufrieden sieht sie nicht aus.
Sollen wir uns nicht doch kümmern? Oder sollen wir sie ihre
Erfahrungen selbst machen lassen? Also uns raushalten, damit sie ihre
eigenen Möglichkeiten, Wege, Umwege, Unwege, Dochwege kennenlernt?
Damit sie lernt, überhaupt? Mir sind derartige Überlegungen zum
Besten der Kinder bekannt, nur zu gut bekannt. Die Situation ist für
so eine pädagogische entwicklungsfördernde Aktion geradezu
klassisch. Raushalten zum Besten des Kindes. Aber ich bin da ganz
woanders.
Ich nehme sie und mich
jenseits ihrer Töne und jenseits dieser Förderüberlegungen wahr.
Ich bin hier draußen am Baum, Anna Maria ist hier draußen am Baum, Ylvi
ist hier draußen am Baum. Jeder tut seine Dinge. Die Großen spielen
das Leben: diesmal reden, das Kind spielt das Leben: diesmal
kletterbaumen. Lassen wir Ylvi im Stich? Geben wir Ylvi die Chance?
Sind wir gemein? Sind wir hilfreich?
„Was will ich wirklich?“
führt in amicatives Land. Und ich merke, dass es mir jetzt gerade
nicht recht ist, aus dem Gespräch mit ihrer Mutter auszusteigen.
Einmal zum Ast heben reicht ja nicht, das wird noch ein Ast, viele
Äste und das Gespräch ist vorbei. Will ich nicht. Ich will noch
nicht einmal etwas sagen, ich will eigentlich nicht einmal
dahindenken. Jetzt gerade nicht. Nachher kann das anders sein, aber
jetzt nicht. Ich schaffe es, bei mir zu bleiben und nach dem
Aufnehmen von Ylvis Botschaft und dem kurzen Blicktausch mit Anna Maria weiter in meine Gedankenwelt und unsere Unterhaltungswelt zu wandern.
Ich bin stark und standhaft, dieser mächtigen Kindesforderung ein
freundliches wortloses unpädagogisches authentisches Nein zu
schenken.
Da Ylvis Mutter auch in der
amicativen Welt lebt und gerade wie ich unterwegs ist, schwingt unser
beider Nein zu den Kind. Ohne jedes Wort. Sicher weiß Ylvi, dass
wir sie gehört haben. Sie wird sich ihre eigenen Gedanken dazu
machen. Macht sie auch: sie fängt an, sich mit dem Unmöglichen zu
beschäftigen. Die Rinde läßt sich klammern, der erste Ast kommt
ins Greifbare. Schon ist sie hoch, Ast sieben. Da sitzt sie und
schaut umher. Sie lacht, und der Baum sieht glücklich aus.
Als Ylvi beim
Runterklettern festhängt, kommt ein Angstton. Beiläufig hebt Anna Maria sie nach unten.Ylvi geht zur Bank, auf der wir sitzen, und kuschelt
sich an ihre Mutter. Sie schaut zum Zitronenfalter und fliegt mit ihm
in seine, ihre, unsere Welt.