Freitag, 4. November 2016

Humanität und Tabu

Doch noch einmal Schule - aber versprochen, dann gibt es andere Posts. Es paßt aber grad so gut und ich will mich dem nicht entziehen. Ich poste Texte aus meinem Schultagebuch.

Sonnabend, der 8.5.

Die letze Stunde ist gerade sieben Minuten vorbei. Ich sitze im Medienraum, die Schreibmaschine vor mir. Die Kollegen sind weg, ab ins Wochenende. Ich bin allein und noch voll von der Aktivität der Stunden eben. Es summt noch in mir. Ich stecke noch in der Erfahrung.

Eben, ganz zum Schluß ging es darum, die Stühle wegzuräumen und runtergefallenes Papier aufzuheben. Ich kann Humanität realisieren, wenn ich davon absehe, durchzusetzen, dass alle hierbleiben, bis aufgeräumt ist. Ich habe erst bestimmt: "Alle bleiben hier, bis es sauber ist" - und es dann gemerkt. Ich lasse sie gehen. Ich bitte sie, mir beim Aufräumen zu helfen.

Als sie einige Minuten vor dem Gong bereits nach Hause wollen, lasse ich das nicht zu. Aufsichtspflicht, und überhaupt. Ich sage laut und unüberhörbar: "Bleibt in der Klasse!" Als Gefängniswärter realisiere ich Inhumanität. Wenn ich dann so human bin und das Papier selbst aufhebe - sie also nicht zwinge, etwas zu tun, was sie nicht wollen: Dann kommt mir diese "Portion Humanität" lächerlich vor. Ich sollte mir nichts vormachen. Doch wenn ich etwas aufstöbere, wo es geht - dann bitte ich eben.

Ich denke weiter über die Portionen Humanität nach, die ich ihnen vorsetze, und ich bin wütend. "Natürlich dürft Ihr Euch vor der Hinrichtung noch ein schönes Essen bestellen." Ich suche dauernd Essen für sie aus. Und ich bin wohl jemand in der Schule, der gut kochen kann. Und da diese Hinrichtungen die so Hingerichteten physisch am Leben halten, kann man es mit ihnen morgen ja wieder tun. Und so weiter. Und nur dann, wenn ein Kopf rollt (wenn ein Kind sich nach dem Zeugnis oder wann sonst umbringt), dann schaut man mal auf - und ist erstaunt (nicht erschreckt) über die Schwäche der Objekte, mit denen man es zu tun hat.

Vorher in der Pause auf dem Hof sind Marion und Petra aus der Schule in T. da. Sie haben heute frei und kommen eben mal vorbei, um mich zu besuchen. Das tut mir gut - und ich kann erfahren, was Humanität im inhumanen Feld bewirken kann. Ich habe dann eine freie Stunde. Ich gehe zu ihnen raus, wir sitzen im Gras und reden. Es ist sehr schön. In der letzen Stunde kommen sie dann in die 8a mit. Sie sind rasch integriert, sie haben Freundinnen hier. Und ich bin schnell der  "humane" Lehrer, sie machen es mir deutlich genug. Denn eben, draußen, war ich es ja tatsächlich: jenseits von Inhumanität, human ohne Anführungszeichen.

Als ich hier schreibe, kommt Kollege K, er hat noch aufgeräumt. Wir problematisieren "human - inhuman". Wir sind uns einig, dass das Verschleiern der Inhumanität es für die Lehrer aushaltbar macht - diese schizophrene Paradoxie hier. Ich will das nicht - und auch er hat Angst davor, so zu werden.

Ich erlebe den Anspruch der Kinder, Humanität zu erfahren. - ich erlebe ihn, weil ich mich ihm aufschließe. Wer sich ihm verschließt, sieht natürlich alles ganz anders. Ich aber erlebe ihn - und auch, dass ich ihn nicht realisieren kann. Es ist kein Anspruch auf gelegentliche Freundlichkeit. Es ist ein Anspruch auf Grundsätzliches. Die Einforderung grundlegenden Rechts: Die Würde des Menschen ist unantastbar ...

Und dann, nach dem Unterricht, nach dem Gong "ist ja alles nicht so schlimm". Warum? Weil ich dann nicht mehr direkt erlebe, was es heißt und bedeutet und bewirkt, inhuman zu sein. Unterricht ist ja vorbei ... und ich bin ab der 46. Minute sehr rasch in freundlicher und friedlicher Nachher-Stimmung. Da bin ich wieder in Übereinstimmung mit mir. Ich bin ein netter Mensch, habe Zeit, kann jede Menge human sein. Dieses Nachher-Verhalten ist auch von der Struktur her möglich. Man kann doch "persönlich" mit Lehrern gut auskommen ... Und schnell, ganz schnell, sinkt zurück, wie das eben noch war mit dem inhumanen Rasen, das sich Unterricht nennt. Ich erfahre die Inhumanität nach dem Unterricht einfach nicht mehr. Da erfahre ich Humansein. Und dann ist es leicht zu sagen: "Ist ja alles nicht so schlimm."

Die Verschleierung des Inhumanen während des Unterrichts ist ein riesiges Problem. Es gibt keine Diskussion darüber. Es herrscht völliges Tabu. Die betroffenen Erwachsenen, die Lehrer, transportieren das inhumane Geschehen - ihr inhumanes Tun - nicht in die Zeit hinter dem Gong. Wenn sie es denn überhaupt bemerken. Sie bringen ihre Erfahrung mit der täglichen Inhumanität nicht mit nach draußen, aus den Unterrichtsminuten hinaus. Es ist, als würde sie das Pausenzeichen in einen Bewußtseinszustand versetzen, der nicht mehr erfassen kann, was in den vergangenen 45 Minuten geschah. Die inhumane Monstrosität der gerade beendeten 45 Minuten widerspricht ihrem Selbstverständnis so existentiell, dass ihnen die eben realisierte Inhumanität nicht mehr bewußt wird. 46. Minute: Blackout, Realitätsverlust, Wahnsinn.

Die Kinder sagen sehr deutlich, was die Erwachsenne mit ihnen in den 45 Minuten machen. Aber in einer Sprache, die man nur versteht, wenn man die gesamte Problematik erfaßt hat. Und beispielsweise Lärm nicht als "Störung", sondern als Ausübung eines Grundrechts - auf Meinungsfreiheit - begreift. Und Nicht-Aufpassen nicht als "Unaufmerksamkeit", sondern als Ausübung eines anderen Grundrechts - des Rechts auf Gedankenfreiheit.

Mir fällt etwas zu gestern ein. Ich hatte Mathe-Arbeitsblätter für die 6b gemacht. Das Wetter ist schön, und mir kommt die Idee, dass wir sie doch auch draußen am Sportplatz bearbeiten könnten. Gedacht, getan! Sechs Minuten Weg bis dorthin. Sonne, Wärme, Wiese, Bäume. Es ist prima! Wir sind entspannt, und sie arbeiten auch mehr als sonst. Ich habe viel Ruhe und Zeit zum Erklären. Einige klettern auf die Bäume und füllen da oben die Arbeitsblätter aus. Ich bin gerührt: Da klettern sie auf ihre Bäume - und füllen da oben meine Schulblätter aus...