Sonntag, 9. Juli 2017
Schulwahrheit, III, Sprengköpfe
Ich habe selbstverständlich! auch Noten gegeben. Ohne Noten-
gebung kein Lehrersein. Klarer Fall, kein Pardon: Ich war genau-
so anmaßend und unterdrückend wie jeder andere Lehrer. Ich
war mir aber darüber klar, welches Unrecht da von mir ausgeht.
(Warum ich dann überhaupt als Lehrer gearbeitet habe, ist eine
andere Frage.) Und mit diesem Bewußtsein konnte ich etwas
erkennen, was "normalen" Lehrern verborgen ist. Und ich habe
auch anders gehandelt, ein bisschen wenigstens... Aus meinem
Schultagebuch:
*
Große Debatte mit einer Gruppe von zehn Kindern (6a) die
ganze Stunde über. Es geht um meine Notengebung. "Warum
gibtst Du Elisabeth keine 2, wo sie doch 2 steht, wie Du selbst
sagst?". Ich erkläre, dass es nicht gestattet ist, jemandem eine
2 zu geben, wenn er auf dem letzten Zeugnis eine 5 hatte. Und
dass die Note am Ende des Schuljahres eine Gesamtnote für
das ganze Schuljahr ist, dass also die Frühjahrsnote mit berück-
sichtigt werden muss. Aber das interessiert sie nicht.
Sie lassen sich nichts vormachen, wenn es um ihre Interessen
geht. "Wenn Du meinst, dass sie eine 2 kriegen kann, dann
steht ihr das zu." Sie haben ihre eigenen Bezugsgrößen und
Relevanzkriterien, die ihnen Auskunft darüber gebeben, was
gut für sie ist und was nicht.
Ich trickse dann, um ihr die 2 doch geben zu können. "Ja,
da gibt es eine andere Regel, die sagt, dass man die bei
einer Konferenz eingereichten Zensuren nicht mehr ändern
darf." Die Begründung interessiert sie nicht, sie sind zufrie-
den, dass Elisabeth ihre 2 bekommt. Mir aber ist sauunwohl
dabei, der so nicht gültigen Vorschrift und der Kollegen we-
gen. Ich tröste mich damit, dass es nicht an die große Glocke
kommen muss.
Und in mir kommt Wut über diesen ganzen Notenquatsch
hoch. Selbstverständlich sind die Noten, die ich ihnen ver-
passt habe, von mir subjektiv zusammengebraut. Diese
blödsinnigen Ansichten über "objektive" Notengebung!
Derartige Beurteilungen sind Herrschaftsausübung, Kom-
munikationsvernichter, schlicht widerliche Angelegenheiten,
inhuman. Wer anders darüber denkt, weiß nicht, was Sache
ist bei denen, die das alles ertragen müssen. Und natürlich
bin ich dafür, überhaupt keine Noten zu geben, all das "Ich
weiß was über Dich" schleunigst sein zu lassen und statt
dessen in ehrliche und gleichwertige Kommunikation ein-
zutreten.
*
Mit der 5c bespreche ich die Noten auf dem Rasen. Ich gehe
deswegen extra nach draußen. Es ist eine abgesicherte Gele-
genheit, rauszugehen.
Mit vielen geht es schnell. Ich setze die Noten nach Gefühl
fest und mit Hilfe von Notizen, wer mitgemacht hat. Ich gebe
keine 5. Das mache ich sowieso nur dort, wo ich wegen
schriftlicher Arbeiten nicht anders kann, also in Mathe. Aber
in Bio und Physik, wie hier in der 5c, denke ich nicht daran,
diesen Superirrsinn mit den Fünfen mitzumachen. Da habe ich
keinerlei Skrupel, hier kann ich echt mal etwas machen. Denn
in Fächern ohne schriftliche Arbeiten kann es sich jeder Lehrer
sparen, Fünfen zu geben. Wer nie mitgemacht hat, kriegt eben
eine 4 und Schluss.
Bei einigen schwanke ich, sie wünschen eine bessere Zensur.
Sie sollen sie haben. Bei zwei anderen bleibe ich hart. Die ak-
zeptieren. Insgesamt bin ich mit der Sache zufrieden und denke,
dass ich mit meiner Notengebung fair bin.
Zum Schluss sind sie dann besessen von der Notengeberei. Sie
hängen so davon ab. Das geht mir durch und durch. Sie leben
mir vor: Gute Note heißt gut sein. Oh Mann!
*
Letzter Schultag vor den Ferien. In den Klassen werden die
Zeugnisse verteilt. Ich denke daran, dass dies jetzt überall im
Land passiert.
Jetzt, im Momant, findet ein geradezu bombastischer Angriff auf
die Kinder statt, Raketen mit Vielfachsprengköpfen werden ab-
gefeuert: Jedes Zeugnis enthält rund ein Dutzend Sprengköpfe in
Form von Noten, deren Wirkung entweder heimlich, hinterrücks
ist: Zerstörung des Selbstvertrauens, des Setzens auf sich selbst,
durch die "guten" Noten der Erwachsenen. Oder brutal offen:
Schlechte Note = schlechtes Kind.
Und ich habe mitgemacht. Es ist ein widerliches Geschäft.