Samstag, 8. Juli 2017
Schulwahrheit, II, In den Tod
Vor den Sommerferien gibt es Zeugnisse. Erwachsenen urteilen
über Kinder, Lehrer über Schüler. Ungefragt, unbestellt. Was ist
dabei? Dabei ist die Anmaßung, so mit Kindern "selbstverständ-
lich" umgehen zu können. Wen stört das, wer nimmt daran Anstoß?
Sollte es uns stören, sollten wir daran Anstoß nehmen? Und was
für Auswirkungen hat diese Notengeberei, kann sie haben, könnte:
ach ja, tatsächlich? Kann, darf, sollte man sich darüber Gedanken
machen? Läßt sich da was ändern? An dem Notengeben? An der
Einstellung der Erwachsenen? An der Einstellung der Erwachse-
nen? Aus meinem Schultagebuch:
*
Josef fragt mich, ob er sitzenbleibt. Ich spüre, wie sehr es ihn
belastet, nicht zu wissen, wo er dran ist. Ich bin wütend über
die Geheinmiskrämerei seiner Klassenlehrerin und habe anderer-
seits Angst, in ihre Kompetenz einzugreifen. Wenn sie ihm nicht
sagt, was die Konferenz beschlossen hat, so hat sie ihre Gründe.
Aber es macht mich eben an, und ich sage ihm dann, was ich
weiß - dass er versetzt wird - und beende den Terror gegen ihn.
*
Nach dem Sportfest bin ich noch eine Weile mit den Kollegen
im Lehrerzimmer. Sie sind so völlig anders - sie sehen die Kinder
so völlig anders. Als Objekte, aber freundlich (nicht auch noch
hämisch). Und doch weit, weit weg von ihnen. Sie bestimmen
über sie. Es taucht gar nicht die Idee auf, dass jedes Kind sein
eigener Souverän sein könnte. Sie wissen, was für Kinder gut
ist, das ist eine ganz klare Sache. Sie sind auf einem wirklich
anderen Weg als ich. Ich merke es und lasse sie in Ruhe.
Von Josef wissen sie, was es für ihn bedeutet, endlich zu erfah-
ren, ob er versetzt wird oder nicht. Sie sagen es und sehen sich
mit ernsten Minen an - aber auf die Idee zu kommen, ihm mit-
zuteilen, was sie ausgemacht haben, sitzt nicht drin. Können sie
nicht fühlen, wie es in dem Jungen aussieht? Gut, dass ich
es Josef verraten habe.
*
Ich telefoniere mit einer Mutter, und wir kommen auf die schäd-
lichen Auswirkungen von (schlechten) Zensuren. Sie erzählt von
ihrer Tochter (7. Klasse), die in Latein eine 4 kriegt und deswe-
gen völlig fertig ist. Sie ist in den letzten drei Tagen nicht zum
Schwimmen gegangen, und es sind draußen jetzt jeden Tag über
30 Grad. Ich bin also voll drin in der Wirkungsproblematik der
Notengebung. Und was liegt neben mir? Die Klassenmappen,
und ich werde gleich - Noten festsetzen!
Verkehrte Welt. Natürlich nehme ich mir vor, die negativen Aus-
wirkungen gering zu halten. Und bei den Kindern, die ich gut
kenne, wird das wohl auch gehen. Aber bei den anderen, die
ich nicht näher kenne, weiß ich nicht, was da eine 4 in Bio oder
eine 5 in Mathe, oder, oder, oder bedeuten, welchen Stellen-
wert diese Urteile in ihrem Leben haben.
*
"Schülerpaar tötete sich"
"München, 23. Juni (dpa). Eine Woche nach der Einnahme ei-
nes Pflanzenschutzmittels sind am Montag in einem Münchener
Krankenhaus ein 19jähriger Gymnasiast und seine 15jährige
Freundin gestorben. Vor acht Tagen hatten die beiden be-
schlossen, aus Verzweiflung über schulische Schwierigkeiten
gemeinsam in den Tod zu gehen."
Fortsetzung folgt.