Samstag, 22. April 2017

Schultrauma, I


Schule, welch weites Feld! In drei Posts (aus meiner Schatzkiste) gehe ich in die Tiefe, in ein Nachsinnen über die ungeheuerliche Zumutung, Destruktion, ja Zerstörung, die jegliche Schule heute für die Kinder ist. Ohne Ausnahme!

Aber es gibt doch so viel Hilfreiches durch die Schule! Das übersehe ich ja nicht. Ich spiele in diesen Posts nur in einer ganz anderen Liga. Beispiel zum Verdeutlichen: Dass die (viele) Frauen im Patriarchat von den (vielen) Männern geliebt wurden/werden, ändert ja nichts an dem ganzen Unterdrückungsmechanismus, der im Patriarchat enthalten ist. Und der den Frauen nicht gut tut. Das ist mit dem Erwachsene-oben-Kinder-unten-Mechanismus, dem Adultismus, nicht anders. Natürlich lieben die (allermeisten) Erwachsenen ihre Kinder. Und schicken sie aus Liebe und Fürsorge in die Schule. Und dennoch, parallel zu ihrer Liebe und ihre Liebe konterkarierend, passiert dabei Ungeheuerliches. Was ich hier beschreibe. "Da haust Du nur auf die Lehrer, die sich bemühen". Auf sie hauen? Das rauscht an mir vorbei. Ja, ich stelle mich gegen "die" Schule und "die" Lehrer. Genau so wie ich mich gegen "die" Männer stelle, die Frauen unterdrücken. Aber: Ich setze die Schule und die Lehrer nicht herab, wenn ich mich gegen sie stelle.

Es geht in meinem Erkennen um Grundsätzliches. Kinder haben das Recht auf ihre Gedanken (Gedankenfreiheit), das Recht, ihre Gedanken mitzuteilen (wann, wo, wie sie wollen, Meinungsfreiheit), das Recht auf Gefängnisfreiheit (Freizügigkeit), das Recht auf ihren Körper (körperliche Unversehrtheit). Was passiert in der Schule mit diesen Rechten? "Die Würde des Menschen ist unantastbar" - auch für Schulkinder? Und was ist mit dem ganzen Klein-Klein eines jeden Schultags, diese großen Rechtsdinge mal runtergebrochen ins Alltägliche? Ein weites Feld.

 

Die persönlichen Herabsetzungen


Dass Kinder durch die Schule in ihrem Herzen tief gekränkt werden und dass sie die Schule nach 10 langen finsteren Jahren traumatisiert verlassen, wird selten wirklich thematisiert. Die großen und kleinen Katastrophen, die alle Schulkinder erleiden, werden rückblickend immer humorvoll oder sarkastisch oder resignativ erzählt, und es heißt dann "Schule ist eben so." Ich sehe aber das Leid der Kinder, das die Schule ihnen zufügt, als das, was es ist, wenn es geschieht: als konkret erlebtes Leid. Und ich erkenne es in seiner Brisanz und Tragweite für die einzelne Person und die Gesellschaft.

Wie schlimm sind persönliche Herabsetzungen, die ein Kind im Laufe seiner zehn- bis dreizehnjährigen Schulzeit in und durch die Schule erlebt? Was verheilt und was bleibt? Warum gibt es keine Studien darüber, welche seelischen Verletzungen Kinder in der Schule erleiden und wie es sich mit den Langzeitfolgen dieser Verletzungen verhält? Warum gibt es keine Leiddiskussion, weder in Ansätzen noch in der ganzen Vielfalt der Dinge, die für Kinder in der Schule Leid bedeuten?

Nun, in einer Welt, die den Erwachsenen über das Kind stellt und die dem Erwachsenen die pädagogische Aufgabe zuweist, aus Kindern vollwertige Menschen zu machen, ist die Herabsetzung des Kindes das Alltagsklima. Herabsetzung: der Erwachsene oben, das Kind unten – der Erwachsene ist der »richtige« Mensch, das Kind ist ein unfertiger, »noch nicht richtiger« Mensch. Das Alltagsklima der Herabsetzung ist strukturell verankert durch die pädagogisch-anthropologische Sichtweise vom Kind. Diese Herabsetzung wirkt aber nicht nur als psychologische Untergrundströmung, sondern wird im Alltag eines jeden Kindes immer wieder auch konkret: verbal und handgreiflich.

In der Schule gilt dieselbe Oben-Unten-Struktur wie in der Gesellschaft, alle Lehrer arbeiten in pädagogisch-anthropologischer Sichtweise an der Menschwerdung des Kindes. Und genauso wird im Alltag eines jeden Schulkindes die Herabsetzung immer wieder auch konkret: verbal und handgreiflich. Als Aktion eines konkreten Erwachsenen, des Lehrers Meier, der Lehrerin Müller: anschreien, beschimpfen, auslachen, bloßstellen, vorführen, bestrafen, beleidigen, zwingen, nötigen, übergehen, wegsehen, schlecht machen, ungerecht behandeln, austricksen, in die Enge treiben, mit Häme überziehen, Schuldgefühl machen, Geständnis erpressen, diskreditieren, diskriminieren, anschwärzen, verpetzen, belügen, das Wort im Munde rumdrehen, die intellektuelle Überlegenheit ausspielen, auflaufen lassen, links liegen lassen, vom Spiel ausschließen, bewusst überfordern, erpressen, eine Leistung nicht anerkennen, Strafarbeiten aufgeben, nachsitzen lassen und so weiter und so fort.

Und: ohne Unterlass wird in die körperliche Unversehrtheit eingegriffen. Man lässt einen anderen Menschen spüren, wer die wirkliche Macht über seine körperliche Integrität hat, wem man ausgeliefert ist, wie man sich zu bewegen, zu drehen und zu wenden hat. Der Körper wird dirigiert und funktionalisiert, Finger, Hände, Arme, Beine, Augen, Ohren, Nase, Mund, Magen. Immer wieder rollen die Angriffe auf die körperliche Souveränität heran, immer wieder erlebt sich das Schulkind nicht als Herr im eigenen Haus, sondern als vertrieben von sich selbst.
 
Fortsetzung folgt.