Was ist dabei, wenn ein Mensch gedemütigt wird?
Fortsetzung des Posts vom 22.4.
Schule, welch weites Feld! In drei Posts (aus meiner Schatzkiste) gehe ich in die Tiefe, in ein Nachsinnen über die ungeheuerliche Zumutung, Destruktion, ja Zerstörung, die jegliche Schule heute für die Kinder ist. Ohne Ausnahme!
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Zu den selbst erlittenen Herabsetzungen kommt das Miterleben der Demütigungen der Alterskameraden, Mitschüler, Freunde – in der Zusammenzählung eine unvorstellbare Menge an durchlittenem und angeschautem Leid. Die Menge dieses Leids wird zur Norm, zur Selbstverständlichkeit, zur erlebten Erfahrung und zum Wissen: »Schule ist eben so.« Ohne Alternative. Und das Gefühl dafür, wie es hätte sein können, sein müssen, wenn Menschen miteinander in gegenseitiger Achtung, Freundlichkeit und Offenheit umgehen, stumpft ab, wird dünner und zerbricht schließlich: »Schule ist eben so.«
Wenn es einem selbst passiert – das ist dann irgendwie normal, es passiert allen, jeden Tag, »und wenn es mich trifft, was ist dabei?« Was ist dabei? Was ist dabei, wenn ein Mensch gedemütigt wird? Wenn er sich nicht mehr selbst gehört? Wenn seine Würde zertreten und sein Wert verhöhnt werden? Wenn sich der Schmerz nicht mehr artikuliert, wenn er nicht einmal mehr als Grenzüberschreitung empfunden wird? »Schule ist eben so.« Welche Seele entwickelt sich dann? Wie tief wachsen solche Verletzungen nach innen? Wie wirken sich diese Verwachsungen später aus, in aktuellen Leidsituationen? In denen, die man selbst erfährt, und in denen, die man miterlebt? Und in denen, die man selbst hervorruft? Wie schultraumatisiert sind wir alle – wie schultraumatisiert ist die Gesellschaft – wie schultraumatisiert ist die heutige Zivilisation?
Demütigungen in der Schule unterscheiden sich erheblich von denen, die in der Familie erlebt werden. Eine Herabsetzung durch den Vater oder die Mutter ist stets nur eine persönliche Angelegenheit zwischen diesem Erwachsenen und diesem Kind. In der Schule ist die Herabsetzung durch den Lehrer Meier und die Lehrerin Müller zwar auch etwas Persönliches, das sie mit diesem Kind austragen, aber darüber hinaus geschieht diese Herabsetzung öffentlich, viele sehen zu, der Verlust des Gesichts ist unabwendbar und stets. Die Demütigung erfolgt durch einen Repräsentanten der Öffentlichkeit, der öffentlichen Macht, der Gesellschaft. Der Stachel der Erniedrigung und Beschämung sitzt tief in der Seele durch die öffentliche Schande, die das Schulkind erlebt
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Das Überschreiten der psychischen Schamgrenze, an sich selbst erlebt oder bei anderen mit angesehen und mit erlitten, lässt Kinder zurück, die nicht nur in ihrem Selbstwertgefühl immer wieder demontiert werden, sondern die nach und nach das verlieren, was man Weltvertrauen nennt. Zu den bekannten Mechanismen, um solche Erlebnisse zu überstehen, gehört es, nicht den Angreifer, sondern sich selbst als Verursacher und Schuldigen für das Vorgefallene zu erleben. Die Kinder werden durch das Leid, das die Schule ihnen zufügt, in tiefe Schuldgefühle verstrickt. Sie geraten in das doppelte Unglück, einerseits Opfer zu sein mit all den abscheulichen Wirkungen – und andererseits sich selbst für diese ganze Peinlichkeit verantwortlich zu machen. Die Unterscheidung zwischen Opfer und Täter verwischt, das Leid kann nicht mehr benannt werden, Sprachlosigkeit macht das Leid steinern und lastet schwer auf der Seele der Kinder.
Die Folgen sind für den einzelnen schwerwiegend genug und dauerhaft, da es weder in der Schulzeit noch in der späteren Erwachsenenzeit eine Aufarbeitung dieser Traumatisierung gibt. Doch sind diese Verletzungen nicht nur für den jeweils gedemütigten Menschen wirksam, sondern darüber hinaus auch dann, wenn den eigenen Kindern derartiges in ihrer Schulzeit widerfährt. Die aktuellen Schuldemütigungen der eigenen Kinder erinnern an die früher als Kind selbst erlittenen Erniedrigungen, die nicht geheilt sind und nun wachgerufen werden. Verschlossen geglaubte Türen zum eigenen Leid werden geöffnet, und der damals erlernte Mechanismus der Doppelbindung lebt auf. Die selbst erlebte Vermischung von Täter und Opfer wird wachgerufen und den eigenen Kindern vorgesetzt: »Geschieht dir recht!« oder »Daran wirst du nicht unschuldig sein!« Oder der Erwachsene empfindet ganz einfach Genugtuung, dass auch anderen – den eigenen Kindern – dieses widerfährt. Reaktionen, die den heutigen Kindern zur eigenen Last zusätzlich die Last ihrer Eltern aufbürden.
Aber wie sollten diese Eltern ihren Kindern auch helfen können? Gefangen im eigenen Leid haben die Eltern eigentlich keine wirkliche Möglichkeit, für ihre Kinder etwas zu tun. Die konkreten Demütigungen, die auch heute Tag für Tag von konkreten Personen in der Schule ausgehen, von Herrn Meier und von Frau Müller, lassen sich nicht vermeiden. Lehrer haben eine pädagogische Grundhaltung, im pädagogischen Bezug steht der Erwachsene als Zivilisationsbeauftragter oben, das Kind als zu zivilisierender Nachwuchs unten. Lehrer haben einen Auftrag – aus Kindern vollwertige Menschen zu machen –, und den müssen sie erfüllen. Und da »Lehrer auch Menschen sind«, werden sie sowohl ihre individuellen Charaktereigenschaften ausleben – und zwar auch die destruktiven – als auch in Belastungssituationen dafür sorgen, dass sie selbst nicht untergehen: und hierzu setzen sie letztlich Herrschaftsverhalten ein.
Es ist völlig illusorisch, sich dafür zu engagieren, dass die Demütigung des Kindes in der Schule verringert wird oder aufhört. Etwa indem man versucht, in konkreten Situationen Einfluss auf bestimmte Lehrer zu nehmen, oder indem die Lehrer in ihrer Ausbildung und Weiterbildung entsprechend sensibilisiert werden. Solange die Schule eine pädagogische Institution ist, enthält sie die strukturelle Herabsetzung des Kindes, und die in ihr arbeitenden Erwachsenen werden um ihrer eigenen Sicherheit willen die ihnen untergebenen Kinder immer wieder auch demütigen, demütigen müssen. Was aber lässt sich tun, wenn die Demütigungen der Kinder unabwendbar zum Alltag der Schule gehören? Wenn sich das Leid nicht verhindern lässt?
Fortsetzung folgt.