Montag, 1. Juni 2020

Vom Umsiedeln in den Großraum Positiv







Zu Pfingsten will ich etwas Besonderes in den Blog stellen, habe aber keine Zeit zum Schreiben. Also suche ich einem schönen früheren Text, pfingstgerecht soll er sein. Ich finde diesen hier*:

Wir sind in Großräumen unterwegs. In großen Resonanzen, die uns durchdringen. Wer weiß, wie viele solcher Hintergrundmelodien es in uns gibt. Aber es lässt sich rasch überlegen, dass es da ein Paar gibt, zwei Seelenräume, die entgegengesetzt sind und doch zusammengehören. Der mit dem Pluszeichen und der mit dem Minuszeichen, der positive und der negative Großraum.

Es mag ja eine Zeit und eine Welt geben, in der diese Gegensätze nicht existieren. Wo Gegensätze zwar existieren, aber nebensächlich sind. Weil alles grundsätzlich konstruktiv gesehen wird, also auch das ganze Theater mit dem Minuszeichen zur Welt der Konstruktivität gehört. So was ist ja bekannt genug, und das bekommen wir ja auch immer wieder mal hin. Oder glauben, dass es so etwas gibt wie ein nicht in Gegensätze aufgeteiltes Universum, monumental, Liebe, wie auch immer.

Aber diese gegensätzlichen Großräume mit Plus und Minus sind auch unsere Wirklichkeit. Wo immer das auch herkommt, aus Kultur oder Genen. Und auf diesen Ozeanen sind wir im Alltag unterwegs. Wer steuert unser Schiff? Haben wir eine Chance, Einfluss zu nehmen? Den Raum zu verlassen, den wir nicht mögen, den negativen Großraum?

Wer entscheidet das? Wir gehören uns selbst. Was ja die Frage ist. Aber wenn man mal davon ausgeht, oder dies für einen gewissen Prozentsatz annimmt, dann liegt es auch an uns, aus dem Minusraum zum Plusraum zu wechseln. Wenn es sich so zusammenreimt. Wenn wir das nicht übersehen. Wenn wir das für möglich halten. Wenn wir umschwingen können. Wenn wir uns vom bösen Blick befreien.

Wer kann das schon? Alles, was wir als unangenehm erleben, wird ja nicht durch einen Psychoumschwung der besonderen Art jetzt irgendwie ent-unangenehmisiert. Vielleicht sogar zu einer angenehmen Wohligkeit. Unangenehmes - also Ärger, Enttäuschung, Ängstlichkeit, Leid, Verzagtheit, Verstimmtheit, usw. usw. - durch eine psychische Großbewegung verlassen können: das wäre es ja.

Diese Zauberei gelingt aber immer mal wieder. Mit den dazugehörenden Kopfsprüchen wie „ist ja nicht so schlimm“ oder „mach mal halblang“ oder „das kann man ja auch anders sehen“. Und wenn das immer mal wieder gelingt, gibt es dann nicht auch eine Möglichkeit, solche Umschwingerei oft herbeizuleben, auch: immer öfter? Sie als Hintergrundmelodie nicht mehr zu überhören? Oder etwas weniger anspruchsvoll: immer wieder aufsteigen zu lassen, nach einer gewissen Zeit des Versackens im zähen Sumpf?

Sehr utopisch und unrealistisch, das Ganze. Negatives macht ja auch erst die Erfahrung und das Erleben des Positiven möglich. Und gehört dazu. Zum Leben und zu allem. Ja ja, die Sprüche sind bekannt. Aber sollen sie mich endlos begleiten in der Zeit meines langen Lebens? Es wird so viel auf dem Basar der Deutungsmöglichkeiten angeboten. Wem wollen wir glauben, wem folgen, wo uns festmachen?

Es gibt die Einladung, sich im positiven Großraum aufzuhalten. Mehr noch: es gibt die Botschaft, sich dort ansiedeln zu dürfen. Und wenn man das will, dort auch zu bleiben. Dort zu wohnen. Wir haben etliche Symbole dafür gefunden: „Jeder tut jederzeit sein Bestes“, „Ich liebe mich so wie ich bin“, „Ich bin Ebenbild Gottes“, „Ich bin Konstruktivität und Liebe“.

Wo will ich wohnen? Als Kinder haben wir von der Möglichkeit, im Plusraum zu Hause zu sein, kaum etwas gehört. „Was hast Du wieder angestellt!“ Schimpfkultur, Fehlerhaftigkeit, Mängelwesen: nicht schön, aber wahr. Wahr? Alles ist Interpretation. Wer aber interpretiert? Wer hat die Welt im Griff? Wer hat uns im Griff? Welche Schriften und welche Schriftgelehrten? Schon gut - natürlich können wir das erkennen und uns emanzipieren, uns als Deuter unseres Lebens und unserer Welt einsetzen. Zumindest können wir uns das vorsagen und dann auch glauben, dass das geht.

Das ist alles ja nicht so einfach, und die Widersprüche, die sich aus so einer Umsiedlung in den positiven Großraum ergeben, wollen ja auch wieder positivgroßräumig, also liebevoll gesehen werden. Wenn jemand mich als Leidzufüger erlebt, und ich das Leid des anderen, das durch mich bei ihm entsteht, wie er sagt, auch sehe („Wegen Dir geht es mir schlecht“) - wie lässt sich das als „Ausdruck meiner Liebe“ schönreden? Man kann das ja machen und sich die Wirklichkeit so verdrehen, wie und bis es passt. Aber ist das erstrebenswert? Und auch noch voll Mitgefühl und Anteilnahme?

Klar ist es das! Wir können uns alles schönreden, wer will uns hindern? Warum Misstrauen in diese Kunst? Wir bleiben bei uns und unserem Glauben an uns und unsere konstruktive und mitmenschliche Kraft. „Ich lass mir das nicht schlechtreden - ich lass mich nicht mehr schlechtreden“. Man muss ja nicht gleich abheben mit so einem Höhenflug. Man kann ja einfach ganz erdverbunden und realistisch in dieser Höhe leben, im Großraum Positiv. Jedenfalls ist das nicht verboten ... Es ist eine Option, die mein Nachdenken über mich und die Welt gefunden hat. Eine Option, die mich gefunden hat. Von der ich mich habe finden lassen.

Es ist immer die Frage, welcher Wahrheit oder welchem Schnickschnack man folgen will. Kräuter-Medizin, Hybridauto, Ökostrom, Mülltrennung, Smartphone, Antivirenprogramm, Bergtour, Flussfahrt - endlose Verlockungen. Oder wie bodenständig man sein will. Unterstützen statt erziehen. Statt erziehen? Geht’s noch? Gruselig oder seeligmachend. Wer will ich sein in dieser unendlichen Vielfalt postmoderner Gleichwertigkeit?

Wir entscheiden über unsere Wege. Was soll mich also davon abhalten, meinen Wohnsitz im positiven Großraum anzumelden? Bei der zuständigen Behörde des Universums? Man kann zum Amt gehen und sich dort anmelden. Wohnt man dann dort auch? Als zweiter Wohnsitz gelingt mir das jedenfalls, ab und zu, immer öfter. Obwohl es ja mein erster Wohnsitz sein soll. Ich lege keinen Wert mehr auf dieses andere Land.

Es gelingt mir zu meiner Überraschung einfach immer wieder, Unangenehmes umzudeuten (in den positiven Großraum). Es bleibt dann zwar unangenehm, aber es fühlt sich anders an. Es hat nicht mehr diese Wucht. Es verliert seine Dramatik. Es verliert seinen nachhaltigen Einfluss auf mein Wohlbefinden. Ich kann Unangenehmes ruhiger sehen, mich entspannen und auch mit meiner Unangenehm-Reaktion nachsichtiger umgehen. Ich rufe mich dabei nicht zur Ordnung, es ist mir einfach möglich.

Darunter ist die Gewissheit, dass alles von einer grandiosen Konstruktivität ist. Dass alles seinen offenen liebevollen Weg geht. Grundidee: diese Konstruktivität. Die jeder so ausfüllt, wie er das kann und leben will. Das kann auch das Umsiedeln in den positiven Großraum sein, manchmal, öfter oder auf Dauer.


*  Post vom 25.2.17