In alten Unterlagen fand ich Aufzeichnungen meiner Großmutter aus der Zeit des Kriegsendes 1945. Ihr Haus in Berlin war von Bomben getroffen und in Flammen aufgegangen. Sie hatte neun damals shon erwachsene Kinder und mit einer ihrer Töchter und der zweijährigen Enkelin war sie bei Verwandten in der Nähe von Magdeburg untergekommen. Kurz vor dem 8. Mai, dem Kriegsende, hat sie ihre Aufzeichnungen fortgesetzt. Ich stelle davon etwas in den Blog.
Wir werden 75 Jahre später grade von Corona geplagt – aber
wenn ich diese Briefe lese, ordne ich das mal anders ein. Coroa ist ja nicht harmlos, wirbelt alles durcheinander und tötet auch. Aber ich frage mich doch, ob wir nicht jammern auf hohem Nivau. Und die Aufzeichnungen meiner Großmutter sind ja nur ein kleines Fenster zum Blick auf das riesige, wirkliche und wahrhaftige Grauen damals. "Frau Baronin, Sie werden morgen verhaftet." Meine Urgroßmutter nahm sich vor Vertreibung und Enteignung das Leben... 60 Millionen Kriegstote. Corona? Ich bleib mal auf dem Boden.
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Brief vom 6. Mai 1945
Liebe Kinder!
Der erste Sonntag nach all den Schrecken, all der Angst, den Sorgen. Wo mögt Ihr alle sein? Wie mag es Euch gehen? Wie mögt Ihr den Sonntag zubringen? Es gibt so viele Fragen so voll Angst, die ich an Euch stellen möchte, deren Beantwortung ich voll Angst erwarte! Ihr armen drei Berliner. Was mögt Ihr ausgestanden haben! Wie oft habe ich an Euch gedacht! Es ist schrecklich, so hier zu sitzen, zu warten, zu denken! Und wann werden wir endlich Botschaften von Euch Dreien und von Euch allen erhalten?! Und wie mag es Euch gehen? Von keinem weiß ich, wo er ist.
Nun will ich Euch so der Reihe nach erzählen. Von C.-J. kam das letzte: eine Karte, er kam von Meiningen mit dem letzten Zug. So hörten wir zuerst von dem Vordringen der Amerikaner – wir haben weder Radio noch Zeitung gehabt – waren ganz erschüttert. Und dann bangten wir um die Meininger: M. und die drei kleinen Kinder und Tante M. Wie haben wir uns den Kanonendonner entsetzlich, schrecklich vorgestellt, die armen verschüchterten Kleinen und die arme Mutter, immer dachten wir an sie, und dann wurde Mühlhausen genannt und die Amerikaner kamen näher nach Weimar! Unser Schrecken, unsere Angst nahm kein Ende! Die Russen näherten sich Meißen, die Amerikaner Leipzig! Ob E. dort blieb? Wir haben es uns so oft gefragt.
Und dann kamen die schrecklichen Tage, als der Kampf um Berlin losging! Wir hörten an unserem geflickten kleinen Radio Brandenburg, Potsdam nennen, Marienfelde, unser liebes Lichterfelde, Lankwitz, Friedenau, den Norden, wo F., auch R. stehen. Immer, immer waren wir in größter Sorge. So ging's weiter bis endlich zur – Kapitulation von Berlin! Ihr könnt Euch vorstellen, wie verzweifelt wir hier sitzen, wie wir Eure Ängste teilen, immer wieder das schreckliche Empfinden, nicht bei Euch zu sein, Euch nicht helfen zu können.
So waren wir voll Besorgnis. Nachts die Flieger machten uns zu schaffen, sie brummten so entsetzlich und waren nahe, die Fenster klapperten und die Türen rüttelten im Schloß. So nun nähert sich der Sonntag dem Ende, wie mag er gewesen sein?