Montag, 2. November 2020

heile heile gänschen

 


heile, heile gänschen
es ist bald wieder gut
das kätzchen hat ein schwänzchen
es ist bald wieder gut
heile, heile mausespeck
in hundert jahren ist alles weg

*

Neulich ging es um Trost und Trösten. Ein Freund konnte damit nichts anfangen, mit Trost und Trösten. Dieses Beistehen und Nahsein, wenn es anderen schlecht geht, war für ihn etwas Ungutes und Negatives? Kein Trost? Kein Trösten? Als ich ihn verständnislos anblickte, erklärte er es mir.

Als Kind wurde er oft getröstet. Aber so, dass ihm der Schmerz und das Ungemach weggetröstet wurde. „Ist doch nicht so schlimm“ und so. Er erlebte es so, dass ihm nicht beigestanden wurde. Sondern dass ihm eingeredet wurde, dass gar nichts Schlimmes passiert sei. Dass das, was ihm so viel Ungemach bereitet hatte, doch gar kein Ungemach wäre. Und dass es nicht richtig wäre, genauer: dass er nicht richtig wäre, wenn er Angst hatte, litt, weinte. Dass das alles gar kein Schmerz und Leid sei, sondern übertriebener Unsinn, Psycho Richtung Hysterie. Er erfuhr durch diese Trösterei, dass er nicht so ein Kind sein sollte, wie er sich aber grade erlebte.

Passen seine Kindheitserlebnisse in die Trostwelt? „Jetzt stell Dich nicht so an“ kenne ich natürlich auch, aber so etwas läuft bei mir nicht unter Trost. Eher als Ausschimpfen und Abkanzeln. Und einem Großen zur Last fallen mit meinem Schmerz. Aber für meinen Freund lief so etwas Herabsetzendes eben unter Trost. Ich versehe das mal mit einem Anführungszeichen: Für ihn war das „Trost“. Und deswegen will er nie in seinem Leben getröstet, „getröstet“ werden. 

Das, was Trost für mich ausmacht, das Nahsein und Beistehen, liebevoll in den Arm genommen werden, das will auch er nicht missen. Natürlich nicht, denke ich. Nur dass das alles für ihn nicht in der Trostwelt zu finden ist. Da gibt es für ihn Nichtgesehenwerden bis Herabsetzung.

Als ich das alles verstanden hatte, dachte ich noch etwas über den Trost und das Trösten nach. Trost ist etwas Großes, ja Großartiges. Ich kann Dir Dein ungutes Erlebnis nicht wegzaubern, ich kann es nicht ungeschehen machen. Aber ich kann Dich in Deinem Schmerz nicht allein sein lassen. Nähe, Wärme, Mitfühlen. In den Arm nehmen. Schon grandios, wie wir Menschen da miteinander umgehen können.

Am faktischen Ungemach ändert sich ja nichts. Der geliebte Mensch ist gestorben, der Partner ist fort, das Bein ist gebrochen, die Grenzüberschreitung und Herabsetzung ist passiert, und so weiter und so fort. Aber ein anderer Mensch ist einfach da und lässt mich nicht allein in meinem Schmerz, Leid und Kummer. Es ist ein Helfen in unsichtbaren Gefilden, eine heilende Kraft.

Mir geht es schon mal so, dass mir zu einem Schmerz eines anderen nichts einfällt, was ich sagen könnte. Sprachlos. Ratlos. Ich will ja seinen Schmerz mit verkehrten Worten nicht noch vergrößern. In solchen Situationen bin ich dann einfach wortlos da, auch etwas angespannt wegen meiner Ratlosigkeit. Aber eben da. Meine Erfahrung ist, dass der andere dann von sich aus das Wort an mich richtet, zu erzählen beginnt. Und oft reicht es auch, wenn ich wortlos ein Taschentuch rüberreiche, für die Tränen und die Nase. Diese Geste hat dann soviel Liebeskraft, dass sie oft ein Lächeln hervorruft. Was heißt, dass der Seelenschmerzkrampf schon nicht mehr ganz so stark krampft.

Wie viel Trost habe ich als Kind erlebt? Woran erinner ich mich? Wie alle Kinder werde ich auch immer wieder den Neinschmerz, den Körperschmerz und den Seelenschmerz erlebt haben. Und ich habe Erinnerungsbilder von Trosterlebnissen (der guten Art). Das „Ich will nicht getröstet werden“, von dem mein Freund erzählt, kann ich mir nur vorstellen, wenn so eine Trösterei von demjenigen kommt, von dem ich das Ungemach grade erlebe. Dann soll er sein Verhalten ändern! Tun, was ich will! Nicht zu seiner Aktion, die Ungemach für mich ist, mich auch noch „tröstend“ anmachen. So ein Szenario kann ich mir ausmalen. Aber das ist verdreht. Gehört zum unguten Umgang mit Kindern. Mit so etwas habe ich nichts zu schaffen. Und mit dem, was ich unter Trost verstehe, hat das auch nichts zu schaffen.

Und dann: Ich kann mich ja auch selbst trösten. Was ich immer wieder einmal mache. „Ist doch nicht so schlimm" - die dunkle Variante dieses Satzes, von der mein Freund erzählt, ist dann hell und hilfreich. Ich kriege mich wieder ein, komm wieder runter, lasse es mal so sein, wie es ist. Lasse mein Betrübnis, Leid und Schmerz gelten, werd aber nicht zum Dramaking. Sondern schau schon wieder zu den hellen Wolken, die hoch am Himmel ziehen. Sehe unten die schönen Blumen auf der Wiese. Letzter Schluchzer, geht schon wieder. „heile heile Gänschen“ - ein guter Trost.