Montag, 3. Januar 2022

Das Kind aus Ohio

 










Ich höre nachts auf der Autobahn Radio. Es gibt ein kleines Interview mit einem Zehnjährigen aus Ohio. Er spricht deutsch, die Kinderstimme klingt in mir nach. Dann die Nachrichten: Morgen früh, ab 8 Uhr, beginnt für viele Kinder nach den Weihnachtsferien wieder die Schule. Vorher habe ich eine Sportsendung gehört: Es ging um „Olympische Winterspiele in China – trotz Menschenrechtsverletzungen?“ Die drei Szenarien fügen sich zusammen: Kinderstimme – Schule – Menschenrechte. 

Was erfasst mich heute Nacht? Ich komme zu dem in der Tiefe, in Untergrund wirkenden, dem grundlegenden Unrecht, das mit der Schule und mit der Pflicht, mit dem Zwang zur Teilnahme bei den Kindern angerichtet wird. Schwer zu denken, schwer zu erfassen, schwer vorzustellen, schwer ein Gefühl dafür zu entwickeln. Ich suche zu Hause eine Passage aus meinem Buch „Schule mit menschlichem Antlitz“ hervor, ein mit Worten gemaltes Bild.* 

Vorspann im Buch: „Bei meinen Bildern geht es mir ja darum, die theoretischen Überlegungen zur Schulthematik mit emotionalem Leben zu füllen. Bei diesem Bild kann man sich mitnehmen lassen und mitgehen.“

*

„Vergangenheit, 1880-1999“, Öl auf Holz

New Mexico, im Sommer 1999. Sie machen Ferien in Amerika. Und da Sie sich schon immer für die indianische Kultur interessiert haben, besuchen Sie die Navajos in der Four-Corners-Region und halten sich nun schon drei Wochen bei ihnen auf, in der Reservation am Mount Taylor. Sie haben viel gesehen und unternommen und neue Freunde gewonnen.

Eines Tages fragt Sie Ihr indianischer Freund Tatanga, ob Sie sich nicht einmal das Museum anschauen wollen. „Ihr habt ein Museum? Klar, das interessiert mich!“ Sie sind gespannt und erwarten neue Einblicke in die Lebenswelt der Indianer.

Nach einer Weile Fahrt durch die faszinierende Landschaft kommen Sie zu einem schlichten Holzhaus. Es ist schon älter, wirkt aber gepflegt. Niemand ist da, der Sie und Ihren Freund begrüßt, aber die Tür ist offen, und Sie gehen hinein. Der Raum, den Sie zunächst betreten, sieht wie das Klassenzimmer einer Schule aus. Bänke, Stühle, eine Tafel, einige Bücher. Wahrscheinlich werden hier Vorträge zur Geschichte der Indianer gehalten. Nach einem kurzen Blick in die Runde wollen Sie den Raum verlassen, denn es gibt nichts besonderes zu sehen. 

Aber Tatanga macht keine Anstalten hinauszugehen. Er steht mit ernstem Gesicht in der Nähe der Tafel und sieht aus dem Fenster. „Lass uns hier weggehen, das ist doch nur der Raum für Vorträge. Wo sind die Exponate?“, sagen Sie. Doch Ihr Freund verzieht keine Mine und rührt sich nicht. „Was ist los?“, fragen Sie. „Wir sind im Museum“, sagt er. „Na klar“, antworten Sie, „aber hier ist doch nichts. Zeig mir die richtigen Räume.“ 

Tatanga dreht sich zu Ihnen um und sieht Sie voll an. „Du bist im Museum. Es ist hier, dieses Haus, auch dieser Raum. Unser Museum ist eine Schule.“ „Wieso - eine Schule?“ Sie sind enttäuscht. Was ist an einer Schule interessant? Ihr Gesicht spiegelt Unverständnis. Tatanga lächelt. „Ich weiß, dass Du jetzt enttäuscht bist. Aber dies hier ist wirklich unser Museum. Weißt Du, in diesem Haus wurden die Eltern meiner Großeltern, meine Großeltern und auch noch meine Eltern unterrichtet. Von weißen Missionaren und Lehrern. Sie sollten 'zivilisiert' werden. Mit Eurer Kultur. Mit Eurer Denkweise. Sie mussten Eure Buchstaben lernen. Eure Art, die Welt zu sehen. Ihre kulturelle Identität - ihre Persönlichkeit ...“ Er schweigt, und dann sagt er leise: „Zumindest haben sie es versucht.“

Sie stürzen in einen Strudel voller Gefühle. Ihr abstraktes Wissen vom kulturellen Imperialismus der Weißen wird hier konkret, an diesem Ort: Hier, in diesem Raum fand das alles statt. Die Präsenz dieser Ungeheuerlichkeit nimmt Ihnen den Atem. Empörung, Wut, Hilflosigkeit und tiefe Scham branden auf. Sie fühlen das Leid, das Entsetzen, die Ohnmacht dieser Menschen. Sie hören die Kommandos der Lehrer, das unbeugsame leise und laute Nein der Kinder, die verzweifelten Schreie der Mütter, denen die Kinder von den Soldaten aus den Zelten gerissen werden, und Sie spüren den unendlichen Zorn und die bodenlose Hilflosigkeit der Väter. Sie sehen den Kampf dort und das Niederringen der Seelen hier. 

Die Brutalität und Demoralisierung dieser „Zivilisierung“ springen Sie an. Wie in Trance starren Sie in den Raum, und als Sie endlich zu Tatanga sehen, ist er nicht da. Sie verlassen das Museum, dieses Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit, setzen sich unter einen Baum und überlassen sich erschöpft Ihren Gefühlen. Und Sie verstehen. 

Als Sie Welten später aufblicken, sehen Sie die stolzen Indianerkinder von damals vor sich stehen. Sie schauen sich an. Und auf einmal verstehen Sie wirklich: „Das stolze lndianerkind – das bin ja ich!“ Tränen schießen Ihnen in die Augen. „Auch ich wurde in ein solches Haus geschafft. Auch vor mir stand ein Lehrer. Auch ich wurde gebeugt und gebeugt und gebeugt. Subjekt, Prädikat, Objekt. (a + b) x (a + b). Schule. Jeden Tag.“ Und Sie halten sich selbst fest. Ganz fest.



* Schule mit menschlichem Antlitz, 2001, S. 78 ff.


 

Montag, 27. Dezember 2021

Liebe ohne Gift





Es reicht völlig aus, ein Kind zu lieben. Mehr ist nicht nötig. Ist es so? Da geht mir das Herz auf bei so einem Urbild: Die Mutter, der Vater, die Oma, der Opa, die/der wer auch immer nimmt ein Kind in den Arm, hält es und die Liebe flutet. Was soll da mein ganzes Gerede von Souveränität und Selbstverantwortung, Königskrone und Würde, Adultismus und Erwachsenen-Chauvinismus? Was sollen da all meine Bilder von Schweineschnauze, Büffel, Schokohasen, Gesundkraut, Amazonas, Bahnhofsweg und Co? Liebe reicht.

Ja, wenn es denn so wäre. Die so wachgerufene Liebe, die von dem Bild der Mutter mit ihrem Kind im Arm ausstrahlt, überdeckt alles. Wir sind gefangen und erfüllt von so einem Bild. Nur, dass ich dabei nicht vergesse, übersehe, wegdrücke, dass auch die Liebe, die lebt, geschenkt wird, erlebt wird, ja nicht im luftleeren Raum daherkommt, sondern eingebettet ist oder hervorgebracht wird in historischem und gesellschaftlichem Zusammenhang. Und auf der Zusammenhangs-Spurensuche und Zusammenhangs-Entdeckungsreise bin ich unterwegs.

Ich rede auf meinen Vorträgen nicht zum Thema "Liebe reicht" oder "Wie sich Kinder lieben lassen". Ich rede nicht zum Thema Liebe. Jedenfalls nicht direkt. Dass alles, was ich an so einem Abend auffalte, mit Liebe zu tun hat, ist schon klar. Aber ich bin untergründlicher, hintergründlicher unterwegs.

Die weiße australische Krankenschwester nimmt das Aboriginibaby liebevoll in den Arm. Das Kind, das den Eltern weggenommen wird, damit es „zivilisiert“ aufwächst. Die Mutter in Gambia nimmt ihre Tochter liebevoll in den Arm, deren Klitoris gerade beschnitten wurde, damit sie integriert in ihrem Dorf aufwachsen kann. Der KZ-Aufseher nimmt sein eigenes Kind abends liebevoll in den Arm, nachdem er den ganzen Tag lang die jüdischen Kinder in die Gaskammer geschickt hat. Diese Grusel lassen sich fortsetzen, lange fortsetzen. Liebe reicht eben nicht.

Es geht mir nicht darum, wie man richtig liebt. Es geht mir darum, was für ein Umfeld um die Liebe herum existiert. Und da habe ich entdeckt, dass – bei aller aller Liebe – Demütigung, Herabsetzung, Unliebe gang und gäbe sind in unserer Kultur. Nicht weit weg, damals in Australien oder im KZ oder fern in Gambia. Sondern nah und heute, hier bei uns. In Deutschland, Europa, der westlichen Welt, der Welt schlechthin, überall.

Da nämlich, wo Kinder noch nicht als ganz richtige, vollwertige Menschen gesehen, bedacht, gehändelt, gebüchert, gewissenschaftet werden. Wo die Weltformel von der Erziehung gilt. Adultismus nennt sich das. Oder spitzer: Erwachsenen-Chauvinismus.

„Sieh ein, ich habe recht“ und „Ich will doch nur Dein Bestes“ sind Statements, die diese Erwachsene-Oben/Kinder-Unten-Grundhaltung zum Ausdruck bringen. Das thematisiert mein Abend. Diese Hintergründlichkeit mache ich bewusst, erzähle davon, lade ein, dort einmal hinzusehen. Dort einmal in sich hineinzuhorchen.

„Mama hat Dich lieb“ ist eine Supersache. Aber: „Aber musst Du Dich dabei so betonselbstverständlich über mich setzen? Musst Du Dich bei all Deiner unendlich willkommenen Liebe so chauvinistisch über mich emporschwingen? Meine Souveränität: Nicht einmal bemerken? Musst Du mich denn wirklich erst zu einem Menschen machen, mit Deinem missionarischen Erziehungsanspruch? Deine Liebe tut gut, aber sie ist auch so giftig. Sie hält mich fest im Unten, als unzivilisierten Untermenschen. Der – welche Gnade – durch Deine Hilfe, die Du 'Erziehung' nennst, zu einem richtigen Menschen werden kann. Kannst Du mich nicht lieben ohne dieses Zeug? Versuch es – Du schaffst das."

Ich zeige den Besuchern meiner Vorträge diesen Zusammenhang, mit vielen Bildern, behutsam, nehme sie mit, lade sie ein. Es erfüllt mich, wie es immer wieder geschieht, dass sie angerührt sind, den Pfad der oben-unten-freien, der ungiftigen Liebe erkennen und sich dieser Liebe zuwenden. Sie bedanken sich nach dem Vortrag, sie ahnen. Und Ihre eigenen Kindverletzungen beginnen zu heilen.



 

Montag, 20. Dezember 2021

Meine sieben Kreise


 

 

Ich bin ganz für mich. Dort, wo ich ungestört bin und mich wohlfühle. Wo ich mich meinem Nachsinnen und In-Mich-Hören hingeben kann. Nachts, im Wald, umgeben von den vielen Gestalten des Lebens, in tiefer Ruhe und Frieden.

Ich will in all dieser wundermagischen Dunkelheit jetzt nur positive Welten in mir aufsteigen lassen. Ich bin in Sachen Selbstliebe unterwegs und will in die große Konstruktivität. Also lasse ich mich treiben in meine Sieben Kreise. Ich lasse diese Kreise in mir „sein“: ich bin sie und sie sind in mir.


Liebe sein

Dies ist die Essenz des Universums, die alles bewegt und durchdringt. Ich bin erfüllt und dankbar, dass ich Liebe sein kann, und ich bin mir sicher, dass ich Liebe bin. Ich schenke mir selbst dieses Geschenk, ich spüre in und vor meiner Stirn diese Wahrheit. Wenn ich die Augen schließe, weiß ich es.


Vertrauen sein

Die Natur um mich herum ist in einem unerschütterlichen Vertrauen. Vertrauen in sich selbst und die eigene Richtigkeit. Ich vertraue, mir, meinem Weg, dem Leben, dem Ganzen. Ich vertraue mich an, überhaupt. Ich lasse mich tragen von dieser Hingabe, sanft rückwärts fallen in die Sicherheit.


Willkommen sein

Ich fühle mich willkommen, hier auf dieser winzigen Kugel im Unendlichen. Willkommen geheißen vom Unendlichen. „Du bist willkommen!“ Jeder Baum und Strauch und Halm, jedes Tier und Tierchen um mich herum tragen diese Botschaft zu mir. Girlanden des Lebens.


Zuversicht sein

Hier muss ich mich sehr konzentrieren. Was ich gerne tue. Aber dann gelingt es, dieses Gefühl, dass da Grund ist und dass es eben gut ausgeht, alles. Und dass ich die seltsamen Pfade des Lebens und ihre unvorhersehbaren Biegungen mit freundlicher Gelassenheit passieren werde. Es wird schon!


Freude sein

Liebe – Vertrauen – Willkommen – Zuversicht. Ich halte diese Reihenfolge ein und es beginnt Freude in mir aufzusteigen. Ein warmes Gefühl, erlaubt und begrüßt. Eingeladen, mich zu freuen. Ich bin so vieles, Freude auch. Die ganze Natur um mich herum ist in freudigem Selbst. Ich gehöre dazu.


Glück sein

Es wird noch intensiver. Eine vorsichtige Bewegung, ich will es nicht übertreiben. Ahnung vom Glück, ein offenes Tor, ein Land dahinter, mit allen Dimensionen. Die Illusion löst sich wie Wolken auf und Glück wird meine Realität. Ich bin ergriffen von diesem meinem Mut. Glück ist immer da, und ich lerne es zu sehen.


Harmonie sein

Umfasst alles. Ist das große Schwingen. Die Einigkeit mit mir selbst und dem Kosmos. Nichts anderes ist gegeben. Es ist die Wahrnehmung meiner frühesten Kindheit, Erinnerung, meiner selbst sicher, ungefragt, einfach da. Ich ruhe in mir und atme. Ich lasse es gut sein. Es ist erreicht und strömt und strömt.

 

*

Nach einer großen oder kleinen Weile lasse ich das alles. Ich wache auf und bin jetzt sehr bei mir. Ich wandere noch ein wenig durch die Nacht. Ich will dieses Meditieren ja nicht übertreiben, aber es ist schön und tut gut. Die Alltäglichkeiten melden sich wieder in meinen Gedanken. Ja – ist schon gut. Ich bin noch da! „Du kannst einfach gehen“, höre ich die Sieben Kreise. „Und wiederkommen.“ Das werde ich.






Montag, 13. Dezember 2021

Und die Kinder? Erziehungswesen?


 
Und die Kinder? Erziehungswesen? Oder von Geburt an vollwertige Menschen, die nicht erst dazu gemacht werden müssen? Die Erziehungssicht ist eine Sicht auf die Kinder. Sie hat eine lange Tradition, auch wir haben sie in unserer Kindheit erlebt. Und glauben, dass es so ist. Nur, dass es heute auch eine andere Sicht auf die Kinder gibt. Die Sicht ohne oder jenseits der Erziehung: Kinder sind keine Erziehungswesen. 

Für neue Sichtweisen braucht es Beweise. Oder neue Ideen, wenn sich da nichts beweisen lässt im handfesten naturwissenschaftlichen Sinn. Die Kinder sehe ich auf der psychologischen Ebene anders als die Tradition, erziehungsfrei, vollwertig, und sie müssen für mich nicht erst zu selbstverantwortlichen und vollwertigen Menschen gemacht werden. 

Henry wird vor 200 Jahren auf einer großen Baumwollplantage am Mississippi geboren. Er ist der Sohn der Plantagenbesitzer, es gibt dort 1000 Sklaven. Henry erlebt von klein auf, wie mit den Schwarzen umgegangen wird. Er erfährt es von Mama, Papa, Onkel, Tante, Oma, Opa, Freunden seiner Eltern, Besuchern. Welches Menschenbild entsteht in Henry? 

Nun, diese schwarzen Menschen sind minderwertige Menschen, Sklaven eben und haben keine Rechte. Es ist nichts dabei, ihnen Befehle zu erteilen, sie anzufahren oder auszupeitschen. Das Kind lernt: Nur Weiße sind vollwertige Menschen. Henrys Haltung und seine Einstellung und auch seine Sprache sind so: Weiße oben – Schwarze unten. 

Henry ist 20 Jahre alt geworden und verkauft für seine Eltern die Baumwolle in New York. Der junge Mann kommt nach erfolgreichem Verkauf bei einem Umtrunk im Saloon mit Bürgerrechtlern in Kontakt. Sie erzählen allen Ernstes, dass Schwarze vollwertige Menschen sind und dass die Sklaverei beendet werden muss. Unvorstellbare Gedanken! 

Aber auf der langen Planwagenfahrt zurück kommt er immer mehr ins Grübeln. Freundliche Bilder aus seinen Erlebnissen mit Schwarzen tauchen auf, er denkt an die Nanny und an die Köchin, ihren Sohn Tom, seinen Spielkameraden. Das Herz geht ihm auf. Als er zu Hause ankommt, sieht er alle Sklaven anders – gleichwertig, mit der Krone auf dem Kopf. Er wird es anders machen als seine Eltern. 

Geänderte psychische Sichtweisen und Gefühlswelten sind nicht ungewöhnlich und kommen immer wieder vor. Im Kleinen: Aus Abneigung wird Zuneigung. Im Großen: Gleichwertigkeit von Frauen statt patriarchalischer Unterdrückung, Gleichwertigkeit von Schwarzen statt Sklaverei.  

Wir machen eine Zeitreise und landen auf dem Marktplatz vor 500 Jahren. Jemand hat behauptet, die Erde fährt um die Sonne und ist deshalb zum Tode verurteilt. Eine große Menschenmenge ist zusammengekommen. Der Verurteilte wird mit Armen und Beinen an vier Pferde gespannt und auf „Hü hott“ zerreißen ihn die Pferde. Die Leute sind begeistert, große Show! Uns wird kotzübel, wir sind entsetzt. Wir leben in einer ganz anderen Gefühlswelt.  

Wir haben eine Fotosafari in Afrika gebucht. Abends sitzen wir in der Lodge, es gibt ein Gewitter. Als es wieder so richtig mächtig blitzt und donnert, sagt unser Safariführer allen Ernstes: „Das ist die Stimme Gottes!“ Ja spinnt der? 

„Willst Du uns Angst machen? Das Gewitter ist doch schon blöd genug. Noch nie etwas von Elektrizität gehört?“ Nun, wir werden dem afrikanischen Guide nicht so über den Mund fahren. Aber es ist schon erstaunlich, wie er denkt. Er spricht von Gott, ich spreche von Elektronen und Luftschwingungen. 

Als das Gewitter vorbei ist, kommen wir darüber ins Gespräch. „Wieso sagst Du das mit der Stimme Gottes?“ „Ja, ich kenne natürlich die naturwissenschaftliche Sicht. Nur, ich liebe den Glauben meiner Vorfahren.“ „Bist Du denn davon überzeugt?“ „Schon, bin ich. Für mich hat es etwas Transzendentes, wenn es ein Gewitter gibt.“ 

Wir interpretieren, wie immer. Wir können die Dinge so oder so sehen. Und was bei Blitz und Donner gilt, das gilt auch für die Sicht auf die Kinder.



Montag, 6. Dezember 2021

Schein der Freiheit

 


Es ist alles nicht so einfach … das trügerische Eis der zeitgemäßen achtsamen Pädagogik in all seiner Brüchigkeit und verletzenden Wucht zu erkennen. Auf dem letzten Vortrag wurde ich wieder einmal damit konfrontiert. Hier Grundsätzliches dazu, angereichert mit einem Zitat von Rousseau.

In der modernen Pädagogik wird auf sanfte Durchsetzungstechniken Wert gelegt, um dem Kind die „Einsicht“ in die "Notwendigkeiten“ – das heißt allemal Erwachsenenvorstellungen – zu „erleichtern“. Wie „freundlich“, „demokratisch“, „partnerschaftlich“ es dann in „Augenhöhe“ mit „Ich-Botschaften“ in „Kreisgespräch“ und „Rollenspiel“ und in der „Familienkonferenz“ und der „Lehrer-Schüler-Konferenz“ „menschenkundlich“ und in „vorbereiteter Umgebung“ auch zugehen mag: 

Die verheerende psychische Herabsetzung des Kindes bleibt, da der pädagogische Erwachsene nach wie vor – aus seinem Selbstverständnis heraus – die innere Führung beansprucht. Und dabei dem Kind die Fähigkeit, das eigene Beste selbst wahrzunehmen, abspricht. Die heutigen „Freundlichkeiten“ und „Achtsamkeiten“ kaschieren lediglich die bestehende grundlegende Oben-Unten-Struktur, die Angriffe auf das Selbst des Kindes und die psychische Missions-Aggression des Erwachsenen. Und entziehen sie effektvoll der Thematisierung und Diskussion.

Diese „sanfte“ Pädagogik hat lange Tradition. Schon der französische Philosoph und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau forderte 1760 in seinem Buch „Emile oder Über die Erziehung“ *:

„Lasst ihn (den Zögling, H.v.S.) immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen … Zweifellos darf es (das Kind, H.v.S.) tun, was es will, aber es darf nur das wollen, von dem ihr wünscht, dass es es tut.“



* Reclam UB 901, 1963/2001, S. 265f.



Montag, 29. November 2021

PferdeKinder


  

Seit einigen Jahren gibt es einen neuen Weg für den Umgang mit Pferden. Dabei will man in die Welt eines Pferdes eintauchen, ein Pferd von innen heraus verstehen, mit ihm sein statt es beherrschen. Einem Jährling wird nicht mehr der Willen gegen seine Natur gebrochen, indem er mit Gewalt eingeritten wird. Es wird eine Kommunikation auf gleicher Augenhöhe hergestellt von Geschöpf Mensch zu Geschöpf Pferd. Und siehe da, ein Pferd, das einen Menschen so gleichwertig erlebt, lässt ihn nach einer Zeit des Vertrauens bereitwillig auf seinen Rücken steigen. Immer mehr Menschen gelingt dieser neue Weg, und etwas ungläubig nennen wir solche Menschen Pferdeflüsterer.

Die Kinder von innen heraus verstehen, ihre innere Souveränität überhaupt erst einmal erkennen, sie nicht mit erzieherischer Missionierung brechen – und ein Kind lässt uns teilhaben an seiner Welt, von Geschöpf zu Geschöpf. Doch wie viele können so etwas denken? Wer erkennt diesen Weg und kann ihn gehen? Wir sind im Umgang mit Pferden weiter als in unseren Beziehungen zu Kindern.

"Setz Dich! Steh auf! Steh still! Sitz ruhig! Sitz gerade! Sitz ordentlich! Hampel nicht! Wackel nicht! Kippel nicht! Füße runter! Knie zusammen! Zeig auf! Finger runter! Finger weg! Schreib schneller! Andere Hand! Hand geben! Hand auf! Zeig her! Gib her! Leg weg! Komm her! Geh weg! Geh langsam! Trampel nicht! Schlurf nicht! Renn nicht! Schlag nicht! Box nicht! Tritt nicht! Kratz nicht! Beiß nicht! Spuck nicht! Spuck aus! Kaugummi weg! Pust nicht! Mund auf! Mund zu! Iss nicht! Iss jetzt! Trink nicht! Trink jetzt! Schmatz nicht! Schlürf nicht! Sieh her! Sieh weg! Lach nicht! Grins nicht! Sing nicht! Pfeif nicht! Kreisch nicht! Kicher nicht! Nase putzen! Schnief nicht! Jetzt nicht aufs Klo! Schrei nicht! Heul nicht! Red lauter! Red leiser!" 

Schon klar. Nur dass die Kinder das anders sehen. Ganz anders. 












Montag, 22. November 2021

Medizin


 

Ich bin in einer großen Buchhandlung und sehe mir an, was es grade so gibt an pädagogischen Fachbüchern und Erziehungsratgebern. Ich bin auf der Suche nach Verlagen solcher Bücher, um ihnen das Manuskript meines neuen Buches vorzustellen. Die ungewohnte Konfrontation mit all den Experten erinnert mich an eine spezielle Kritik an meinen Vorträgen.

„Du übersiehst das Bemühen von Eltern und Fachleuten, neue kinderfreundliche Wege zu erkunden, erste Schritte zu tun weg vom Oben-Unten hin zur Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Du bist so pauschal und so schwarz-weiß: Nur Amication ist richtig. Irgendwie arrogant und kontraproduktiv, denn Du willst doch Menschen für die Amication gewinnen.“

Also: Da übersehe ich nichts. Auf meinen Veranstaltungen erlebe ich immer wieder Eltern und Fachleute, die sich zu lösen beginnen vom traditionellen Erziehungs-Oben-Unten. Intuitiv, ohne Theorie, mit dem Herzen fühlend, absprungbereit, erste Schritte wagend, oder schon voll im (nicht)pädagogischen Neuland unterwegs. Dies ist für mich anrührend zu sehen, und ich wünsche mir viele viele solcher Erwachsener.

Meine Texte und meine Vorträge und Seminare sind voll Klarheit und Wahrheit: Erziehung hier - Nicht-Erziehung/Amication/Postpädagogik dort. Mit intellektueller Kraft sehe ich den Unterschied, und ich trage diesen Erkenntnisimpuls gern und beschwingt weiter und male freudig meine Wortbilder. Ohne Intuitives herabzusetzen, ohne das Suchen, Fragen, Beginnen, Zweifeln abzutun!

Und bei all meiner intellektuellen Klarheit nehmen meine Zuhörerinnen und Zuhörer auch meine Herzenswärme wahr, aus der heraus ich all dies überhaupt erst hervorhole. Ich bin als Botschafter unterwegs, als Kind im Erwachsenenland. Meine intellektuelle Trennschärfe wird von den meisten Menschen, die mir zuhören, gern angenommen, durchaus auch staunend, dass das, was sie spüren, bereits einen solchen fulminanten Überbau hat.

Das hätten sie nicht gedacht! Und sie sagen, dass ihnen das hilft, weiter auf ihrem Weg zu den Kindern zu gehen, dem Weg, den sie als für sich richtig erfühlt haben. Und sie bedanken sich für diese Hilfe beim Emanzipieren von all den Normen eines „richtigen“ Umgangs mit Kindern, die in ihnen rumspuken und die so viel Macht über sie haben. Und die von so vielen einflussreichen und renommierten Persönlichkeiten zustimmungsfordernd daherkommen, von

Aebli, Böhm, Bosco, Brezinka, Brunner, Cohn, Comenius, Dewey, Diesterweg, Dilthey, Flitner, Freinet, Fröbel, Ftenakis, Gagné, Gordon, Herbart, Humboldt, Jegge, Juul, Kant, Kerschensteiner, Klafki, Korczak, Hentig, Litt, Makarenko, Meves, Mollenhauer, Montessori, Neill, Nohl, Pestalozzi, Piaget, Pikler, Pawlow, Petersen, Platon, Prekop, Reich, Rousseau, Roth, Schleiermacher, Skinner, Sokrates, Spranger, Steiner, Uschinski, Wild, Wyneken, Ziller, Zulliger, Hinzius und Kunzius.

Forderungen, die in all den Fachbüchern und Erziehungsratgebern stecken, dass den Müttern und Vätern ganz schwindelig wird. Ganz abgesehen davon, was sich in ihnen angebraut hat, wie sie sein sollten, als ihr erstes Kind kam. Sie wollen sich davon lösen, weil sie das alles ungut finden. Und da komm ich ins Spiel und biete ihnen halt etwas Medizin an, damit sie ihr Gleichgewicht besser halten können. Eine spezielle Mixtur aus Intellekt und Emotion, Emanzipation und Gelassenheit, Selbstliebe und Empathie, Zweifellosigkeit und Überzeugtheit.

Diese amicative Medizin ist dem einen süß, dem anderen bitter. Ich aber freue mich, wenn sie hilft.


 

Montag, 15. November 2021

Mika und David

 

 

Ich bin zum Arbeitsbesuch in meiner alten Wohnung. Ich räume die beiden Kammern auf dem Dachboden aus, es sind unzählige aussortierte Bücher, Teppiche, Matratzen und viel Haushaltskram von früher durchzusehen. Morgen soll endlich das zur Müllstation, was nicht mehr zu gebrauchen ist. Aber wie schaffe ich es, die vielen schweren Kartons und Co aus dem dritten Stock nach unten zu bringen? Alles soll dort im Parterreflur parat stehen, morgen habe ich einen Transporter, mit dem ich die Sachen wegbringen kann.

Ich mache eine Pause und fahre ein bisschen durch die Felder. Zwei Jungen, so um die 16, 17 fahren vor mir auf ihren Rädern, ich überhole sie. Tja, wenn die mir die Kartons tragen würden... Da halte ich auch schon an. „Hallo Ihr zwei, ich habe mal eine Frage...Kartons...3. Etage…halbe Stunde Arbeit...50 Euro...“ Sie verstehen mein Problem, sehen sich kurz an, dann sagen sie spontan ja. Ich bin begeistert! Und erkläre ihnen den Weg, sie kennen sich aus, sind aus dem Dorf.

Gehört sich das? Fremde Kinder ansprechen? 50 Euro anbieten? Tja, eigentlich nicht. Aber ich habe meinem Gefühl vertraut, wie immer, wenn ich etwas Außernormiges vorhabe. Es dennoch probiert. Ich brauchte Hilfe – ich habe mich an jemanden gewandt. Nicht leicht, aber ich habe mich getraut und die Etikette beiseite geschoben. „Könnt Ihr mir helfen?“

Nicht nur die Jungen anhalten und anquatschen, auch die 50 Euro waren eigentlich zu viel. Man kann Kinder doch nicht mit Geld anlocken... Auch da habe ich die Etikette beiseite geschoben. Die 50 Euro waren stimmig. Und ich will ihnen auch eine Freude machen. Unverhoffte 50 Euro sind für junge Burschen schon eine kleine Ansage, für eine halbe Stunde Arbeit am Sonntag Nachmittag.

Es hat alles gepasst. Sie waren achtsam mit meinem Kram, alles war dann gut unten verstaut.

Zu Beginn der Aktion, als sie mit ihren Rädern am Haus ankommen, habe ich mich vorgestellt. „Ich heiße Hubertus, wie heißt Ihr?“ Mika und David waren erst befangen, dann unkompliziert. „Wir duzen uns, ok?“ Auch das ging. Und die 100 Jahre Altersunterschied? Welcher Unterschied?

Zufrieden fuhren sie nach getanem Werk und dem 50er von dannen. Und zufrieden ging ich wieder auf den Speicher, es gab noch viel zu kramen.

 

 

Montag, 8. November 2021

Blumen für den Klassenlehrer

 

 

Zu meinem diesjährigen Klassentreffen kam auch unser damaliger Klassenlehrer der Abschlussjahre. Beim letzten Treffen hatte ich ihm kurz etwas von Amication erzählt und dann ein Buch (Amication – Themensammlung) geschickt. Er hatte es gelesen und war überhaupt nicht einverstanden! Bevor das Essen in unserem Stammlokal kam, hatte ich 15 Minuten – ich wollte ihm den Kern der Sache, das, was Amication ausmacht, gern vermitteln. Es hat nicht geklappt!

Ich habe darüber nachgedacht, als ich nach Hause fuhr. Warum konnte ich ihn nicht erreichen? Ich bin doch erfolgreich auf den Elternabenden. Ja, da habe auch auch zwei Stunden Zeit, davon hören die Eltern eine Stunde lang erst einmal konzentriert zu (was bei der schwierigen Thematik erstaunlich genug ist). Und ich merke an den Fragen und Reaktionen, dass viele Eltern eine Ahnung davon bekommen, was mit Amication gemeint ist. Sie sind zum Schluss angerührt und bedanken sich.

Die Eltern kommen mit dem Fragehaltung: Was ist eigentlich mit „Unterstützen statt erziehen“ gemeint? „Kinder sind wunderbar! Unterstützen statt erziehen“ - so (und etwas mehr an Inhaltlichem) steht es in den Flyern, die sie im Kindergarten oder im Volkshochschulprogramm lesen. Sie wollen es verstehen. Mein Klassenlehrer dagegen war auf einem anderen Trip: Dem Ablehnungskurs. Er wollte mir klar machen, dass das so nicht geht, was ich da geschrieben hatte. Er wollte nicht verstehen, er wollte korrigieren. Sein Impuls war gänzlich anders.

Er hatte die üblichen Einwände: man muss doch Grenzen setzen (als täte ich das nicht), man weiß es besser als die unwissenden Kinder. Tja, das weiß ich auch, natürlich ist es unten an der Wand eine Steckdose und keine Schweineschnauze. Aber mein Wissen – nach dem ich auch handle – stellt mich auf der psychologischen Ebene jedoch nicht über das Wissen eines anderen, und sei er noch so anders/jung.

Der Unterschied von Handlungsebene und psychologischer Ebene war meinem Klassenlehrer nicht präsent als goldener Weg zum Verstehen von Amication. Mein Erklären der verschiedenen Ebenen brachte nichts. Da warf ich eine Gabel auf einen Teller, dass es nur so schepperte! Alle sahen auf, die Bedienung erstarrte. „Werner, das Werfen und das Geräusch ist die Handlungsebene. Dein Erschrecken und peinliches Berührtsein ist die psychologische Ebene. Und ich bin nur in der psychologischen Ebene anders als erzieherische Eltern“. Half nichts, kam nicht an. Meine Gabelwerferei im vornehmen Restaurant war einfach nur daneben. Vermitteln konnte ich nichts.

Auch das Beispiele vom achtungsvollen Töten des Büffels zog nicht: auf der Handlungsebene klares Oben (erfolgreicher Jäger) und Unten (getöteter Büffel), auf der gleichzeitigen psychologischen Ebene klare Gleichwertigkeit (Jäger „Ich danke Dir für dein Fleisch“, Büffel „Du setzt mich nicht herab, auch wenn Du mich tötest“). Und meine Vergleiche vom früheren chauvinistischem Oben-Unten der Männer zum heutigen gleichwertigen Zusammensein mit Frauen auch nicht. „Lass das mal, den Vergleich mit den Frauen“.

Es fehlte einfach der Funke, das Aufblitzen einer Erkenntnis. Es kamen ganz andere Statements von ihm als ich sie auf den Elternabenden zu hören bekomme. Er: „Wie lange warst Du eigentlich Lehrer?“ „Wie hast Du Deine eigenen Kinder großgezogen?“ Immerhin vermied er „erziehen“, es war ihm klar, dass ich da etwas dagegen hatte. Was ich dagegen hatte, war aber eben nicht klar. Jedenfalls wollte er mich einem Praxistest unterziehen, die Legitimation einsehen, ob ich überhaupt in pädagogischen Belangen mitreden könne. Dass es um ein strukturelles Problem ging, um eine postpädagogische Haltung im Gegensatz zu einer pädagogischen Haltung, dass es um Erwachsenen-Chauvinimus ging, Adultismus genannt – das verfing nicht.

Er konterte meinen 5-Minuten-Theorie-Redeschwall („Hör mir erst mal 5 Minuten einfach zu“) mit „Das geht nicht“ auf der praktischen Ebene. Ich konnte ihm nicht klar machen, dass es um Existentielles, Menschenbild und Co ging. Obwohl ich das ja sagte – es verfing eben nicht.

Ich habe mir dann auf der Rückfahrt gesagt, dass er eben wie alle, die ich im Laufe der vielen Jahre Öffentlichkeitsarbeit mit Amication nicht erreicht habe, in einer anderen Welt, einem anderen Narrativ oder Erzählung unterwegs ist. In der pädagogischen Welt eben. Wenn ich da nicht irgendwie dazwischenkomme, mit viel ruhiger Erzählzeit, ohne Opposition und mit offenen Ohren und Resonanz mit eigenen Kindheitserfahrungen, dann geht da nichts.

Und außerdem wollte ich etwas erklären – Erklären hatte er aber nicht bestellt. Er wollte selbst etwas erklären, mir nämlich: dass es mit der Amication nicht geht. Er hat mich nicht gefragt: „Wie meinst Du das alles eigentlich mit der Amication?“ Da bin ich halt übers Ziel hinausgeschossen. Es hat mich mitgerissen, ich wollte meinem Lehrer etwas zeigen. Ein Schüler, der etwas entdeckt hat. Ich wollte ihm meine wunderschönen neuen Blumen zeigen und habe nicht gemerkt, dass er meinen Blumenstrauß für eine Ansammlung von Unkraut hielt.

Wir sind friedlich auseinandergegangen. Das Essen kam, und die anderen hatte auch genug von meiner Beschlagnahme unseres Klassenlehrers. Schick ich ihm noch ein Buch hinterher? Vielleicht mein „Schule mit menschlichem Antlitz“ oder mein Schultagebuch? Immerhin war er doch lange Zeit Lehrer... Ich werde es lassen. Er hat nicht danach gefragt. Ich will ihn doch nicht missionieren.

Und: Ich mag ihn sehr.


(Über mein erstes Wiedersehen mit meinem Klassenlehrer habe ich im Post vom 25.2.2018 etwas geschrieben.)


Montag, 1. November 2021

Warten am Zwischentor


 

Ich warte.“ Die Kinder sollen bitte sehr aus dem Auto steigen, es geht zum Einkaufen. Aber sie spielen weiter mit einem alten Handy rum. Ich bin ausgestiegen und warte. Ungern. Ungerner. Noch ungerner. Ich öffne unsanft ihre Aussteigetür. Dann kommt endlich Bewegung ins Feld. Einer steigt aus. Der andere noch nicht. Mein Warten wird schwer, explosiv. Dann kommt auch der zweite. Der Weg zum Geschäft ist lastig, wartelastig. Jedenfalls nicht unbeschwert und heiter. Die Sonne scheint zwar, aber nur am Himmel.

Wieso kann ich nicht warten? Einfach da sein und warten? Was bremst mich aus? Ich bin heute Vormittag gern mit den Kindern in der Stadt. Wir haben etwas vor, Einkaufen und mal sehen. Doch ihr Nichtaussteigen vertreibt die Leichtigkeit des Seins.

Warten - welch grandioses Thema. Eine Lebensthema. Auf alles und jedes und jede und jeden wird gewartet. Dass er/sie/es kommen möge. Nicht kommen möge. Dass es vorbei ist. Dass es nicht vorbei ist. Endlos, uferlos. Und immer wieder mit diesem unangenehmen Ton dabei.

Wenn ich gut bei mir bin, mit den Wolken fliege oder die Sonne genieße, dann gelingt das Warten. Dann könnte ich die Kinder in ihrem Spiel sehen, auch jetzt, wo sie nicht aussteigen. Sie sind doch in der Freude, in ihrem Spiel eben. Was muss ich das stören, zerstören durch meine Pläne, meine Eile, meine Ungeduld? Warum muss es jetzt nach mir gehen („raus jetzt, sofort“) und nicht nach ihnen („gleich, wir sind noch nicht fertig“)?

Ich bin da irgendwie auf ein ungutes Gleis geraten. Wirklich eilig ist es nämlich natürlich sowieso und niemals nicht. Ich sinne nach. Und merke, dass ich mich nicht ernst genommen fühle. Dass ich mich von ihrem Spiel herabgesetzt fühle. Ausgebremst fühle. Blöd dastehe. So neben der offenen Autotür, mit dem Einkaufsbeutel in der Hand. Das ist ganz schön absurd, skurril, grotesk. Was macht sich da in mir breit?

Alte selbst erlittene Kindersachen. Gedrängt zu werden. Dauernd gedrängt zu werden. Von den Wichtigkeiten und Notwendigkeiten und Sowiesoigkeiten der Erwachsenen. Alles hatte aufzuhören, wenn die Großen am Zug waren. Sie warteten nicht. Sie erwarteten. Dass ich nämlich in die Spur komme. So, wie sie sich das wünschten, so ganz selbstverständlich, als Umgangsform von Groß und Klein. Wenn die Großen sagten, was zu passieren hatte, dann war ich am Zug, das auch zu tun. Sofort.

So gingen und gehen Erwachsene mit Kindern eben um, als banale Basis. Erwachsene warten nicht auf Kinder. Es ist der Grundstandard. Ohne Worte. Wenn das Auto anhält, ich aussteige, dann steigen die Kinder auch aus. Handy aus und raus. Jedes Warten ist da unpassend, öffnet die Tür zum Unterordnen der eigenen Wichtigkeiten unter den Kram der Kinder. Kann man nicht durchgehen lassen. Führt ins Chaos. Ist völlig alltagsuntauglich.

Ich bin immerhin heute auf einer Zwischenstation angekommen. Ich kann es aushalten, bis sie kommen. Werde nicht massiv und so. Aber es ist sehr schwer. Immerhin kann ich sehen, was sie tun: sie spielen, sie spielen ja. Sie sind nicht irgendwie aufsässig. Sie spielen ja nur. Und genau dieses Merken erreicht mich dann beim Gehen zum Geschäft, wie der Zauberglanz der Sonne.

Es kommt an. Die Freude des Spielens, die Schmetterlinge aus dem Auto, das Glück des Handyspiels. Die Melodie des Lebens dringt bis zu mir vor, lacht mich an. Ich beruhige mich. Und dann kann ich stehen bleiben, als sie sich einem Bettler zuwenden, der am Boden sitzt. Ich warte. Er spricht sie an, sie sehen zu mir, und ich gebe ihnen etwas für ihn. Sie freuen sich über sein „Danke“ und seinen freundlichen Blick.

Habe ich es nicht eilig? Das hat sich erledigt. Ich warte. Und genieße die drei Menschen vor mir, wie sie miteinander zu tun haben, die Kinder und der Bettler. Ich werde beschenkt. Das Warten öffnet Zwischentore für Orte, die nicht vorgesehen aber dennoch da sind, voller Wunder und Geschenke.