Dienstag, 21. Februar 2017

Herrschaftsanspruch und Herrschaftsausübung, I


Dies wird ein Doppelpost. Erst gehe ich dem Herrschafts-
anspruch nach. Im zweiten Teil geht es um das Wissen, was für andere gut ist. Da findet sich dann auch das Durchsetzen, d.h. das Herrschaftsausüben. Widerspruch? Mal sehen.

Teil 1: Die Herrschaft beenden ...
 Es ist für Erwachsene selbstverständlich, dass sie den Kindern sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. »Iss Deinen Teller leer!« – »Stell Dein Rad in den Keller!« – »Setz die Mütze auf!« – »Spiel nicht am Radio rum!« – »Komm um acht nach Hause!« – »Mach Hausaufgaben!« Alle Kinder müssen letztlich tun, was Erwachsene ihnen sagen. 
Doch die Missachtung des anderen, der niemals wirklich ein Befehlsempfänger ist – und das gilt selbstverständlich auch für Kinder – liegt nicht so sehr in den konkreten Anordnungen. Sie liegt im Grundsätzlichen: Dass Erwachsene sich überhaupt herausnehmen, etwas anzuordnen oder zu verbieten. 
Wir haben nun als Mutter, Vater, Lehrer oder Erzieher die Möglichkeit, darauf zu verzichten, etwas durchzusetzen. Wir haben das Recht dazu. Wer würde es uns streitig machen? Wenn wir den Kindern gegenüber auf das Durchsetzen verzichten wollen – wir können es, es fällt in unsere Zuständigkeit. Eventuell werden wir uns dafür Kritik einhandeln: »Du lässt aber auch alles durchgehen.« Aber niemand stellt in Frage, dass wir in konkreten Fällen auf die Herrschaft über Kinder verzichten können. 
Doch dass wir überhaupt verzichten können, bei Kindern etwas durchzusetzen, bedeutet auch, dass Kinder von unserer »Großzügigkeit« abhängig sind. Kinder haben nicht den gleichen Status wie wir. Sie können nicht ins Spiel bringen, dass niemand das Recht hat, ihnen gegenüber etwas durchzusetzen. 
Aber nur dies, meine ich, ist richtig. Grundsätzlich haben Erwachsene kein Recht, Kindern gegenüber etwas durchzusetzen. Es gibt keine wirkliche Berechtigung, über einen anderen Menschen Herrschaft auszuüben, niemandem gegenüber, auch Kindern gegenüber nicht. 
Ich jedenfalls habe für mich erkannt, dass ich keinen Herrschaftsanspruch habe, wenn ich mit Kindern zusammen bin. 
Das Ablegen dieses Herrschaftsanspruchs kommt nicht nur aus der Überlegung, dass Kinder wie alle Menschen eine unantastbare Würde besitzen, dass sie souveräne Menschen sind wie jeder andere auch. Die Aufgabe des Herrschaftsanspruchs kommt neben solchen intellektuellen Motiven vor allem aus meinem Gefühl: Ich will einfach nicht mehr jemand sein, der sich das Recht herausnimmt, ein Herrscher über Kinder zu sein. Dies bereitet mir unangenehme Gefühle, Widerwillen, Abscheu. Ich finde das nicht nur nicht gerechtfertigt, sondern auch abstoßend.

Genau so, wie ich Widerwillen habe, wenn ich etwa für Menschen mit einer anderen Hautfarbe zum Herrscher werden sollte – wie es aber vor noch nicht allzu langer Zeit für einen Weißen selbstverständlich war. Ich habe nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit meinem Herzen die Position der Gleichwertigkeit aller Menschen – auch der Kinder – eingenommen. 
Im Erwachsenenalltag sind wir es ja auch sehr wohl gewohnt, dass wir kein Recht haben, andere Mensch zu beherrschen. Wir haben keinen Herrschaftsanspruch an die anderen. Wir gehen mit ihnen auf einer gleichen Basis um, wir bitten, und gelegentlich üben wir auch Druck aus. Das Ausüben von Druck auf andere ist dabei von der aktuellen Situation abhängig. Doch das Gefühl, dass der andere sich beugen müsse – also einen Herrschaftsanspruch – haben wir nicht. Vielleicht fügt sich der andere, dann war der Druck erfolgreich. Aber er hätte es nicht tun müssen, es besteht für den anderen keine Verpflichtung hierzu – und für uns kein Recht, dies zu erwarten. 
Nur Kindern gegenüber ist das alles ganz anders. Dort gibt es eine Grundgröße, ein Selbstverständnis, ein Gefühl, ja ein Rechtsgefühl (ein Gefühl, dass man im Recht ist und das sich auch längst in juristischen Regeln ausgedrückt hat): Erwachsene können Kindern sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Erwachsene sind dazu berechtigt. Erwachsene haben den Anspruch, dass Kinder folgen. Im Unterschied zum Verhalten der Erwachsenen untereinander gehört im Umgang mit Kindern der Herrschaftsanspruch dazu. 
Den Herrschaftsanspruch anderen Menschen gegenüber gab es auch unter Erwachsenen. Und die Menschen konnten sich davon befreien. Von der Folter, der Leibeigenschaft, der Sklaverei, der Frauenunterdrückung, dem Rassismus, dem Kolonialismus, dem Kommunismus. Das Ablegen des Anspruchs, über andere zu herrschen, hat eine lange und gute Tradition in der Geschichte der Menschheit. 
Erwachsene können heute erkennen, dass sie ihre Kinder in der destruktiven Tradition des Herrschaftsanspruchs großziehen. In der Tradition, in der sie selbst, ihre Eltern und die Eltern ihrer Eltern groß geworden sind: Kinder sind der Herrschaft Erwachsener unterstellt. Doch man kann noch einmal nachdenken und noch einmal hinsehen. Man kann – mit einer neuen Perspektive – bemerken, dass es wirklichkeitsfremd und unwürdig ist, Kindern die Fähigkeit zur Selbstverantwortung abzusprechen und sich für sie verantwortlich zu fühlen. Es gibt heute ein neues Gefühl für die Würde des Kindes – dem können Erwachsene nachspüren und in der Tradition der Menschenrechte gleichwertige Beziehungen mit Kindern beginnen.