Donnerstag, 2. Februar 2017

Gewalt und Körpermacht



Sind unsere Einsichten und Notwendigkeiten wichtiger und wert-
voller als die der Kinder? Und wie ist das dann im Konfliktfall mit
dem Durchsetzen? Ich habe mich mit dieser Frage in meinen Büchern
oft auseinandergesetzt. Wer setzt sich letztlich durch? Und wie?

Aber hoppla: Da taucht dann schnell die "Gewaltfrage" auf. Aufschrei?
Na ja, die Kombination von "Kinder" und "Gewalt" löst schaurige
Assoziationen aus. "Bleib auf dem Teppich", sag ich dann. "Wie willst
Du Dein Krabbelkind denn von der Steckdose wegkriegen, wenn
Deine Geh-da-weg-Töne nichts fruchten? Du wirst es packen und
wegziehen." Das ist körperliche Macht, Gewalt eben. Nur, dass das
Wort "Gewalt" abstößt, politisch unkorrekt ist. Der Vorgang "Muckis
packen Kind und Kind ist den Muckis ausgeliefert" bleibt jedenfalls.

Nennen wir es halt anders, so, dass nicht der Untergang des Abend-
lands assoziiert wird. Ich denk mir dafür jetzt als neuen Namen die
"Körpermacht" aus und schreib meinen Text um. Außerdem ersetze
ich den damals geläufigen Begriff "Antipädagogik" durch das heutige
"Amication". Aber jetzt rein in die Gewalt-, pardon, Körpermacht-
Thematik. (Aus "Die antipädagogische Argumentation", 1996, S. 78ff)

*

Das "Ich muß zum Bus" des Erwachsenen ist aus amicativer Sicht
kein bisschen wertvoller als etwa das "Ich will jetzt malen" des Kindes.
Das "Ich muss" des Erwachsenen ist ja kein tatsächliches Muss, sondern
ein "Ich will". Gründe dafür wird der Erwachsene genügend haben.
Gründe wird auch das Kind für sein Wollen anführen können. Die
amicative Sicht billigt im Konfliktfall beiden Kontrahenten eine gleich
wertvolle Position zu - egal, worum es geht. Niemals steht ein Mensch
über dem anderen.

Ich möchte es gem wiederholen, weil es immer wieder missverstan-
den wird: Die Gleichwertigkeit im Innenbereich der Beziehung
verdammt niemanden zur Tatenlosigkeit und zum Erduldenmüssen
der Position des anderen im Außenbereich der Beziehung, in der
physikalischen Welt. Das Sich-nicht-Höherstellen im Innenbereich ist
die Verneigung vor der Würde und Ichposition des anderen. Er ist im
Finden der Wahrheit nicht weniger wertvoll als ich, ich bin hier nicht
weniger nah dran als er. Wahrheit ist für den Menschen nichts
Objektives (im Bereich der Physik usw. gilt anderes, aber auch dort
gibt es nur immer Wahrheit auf Zeit, bis sich eine neue naturwissen-
schaftliche Erkenntnis gefunden hat).

Es stehen sich in der psychologischen Dimension der Beziehung nicht
mehr richtig und falsch gegenüber, sondern stets viele Beste. Jeder
weiß um sein Bestes - und diese Beste sind gleichwertig.

Es gibt nur subjektive, private, individuelle Einsichten und Notwen-
digkeiten. Wenn sich ein amicativer Erwachsener dafür entscheidet,
dass seine Einsicht jetzt realisiert werden soll, und dies die Kinder
nicht mitmachen, da sie ihren eigenen Einsichten folgen wollen,
wird er - falls ihm nichts anderes einfällt - auch körpermächtige
Möglichkeiten in Betracht ziehen und gegebenenfalls realisieren
bzw. es versuchen. Dies ist dann aus der Sicht des anderen eine
nicht gerechtfertigte Aktion.

Der Einsatz für die Realisierung der eigenen Interessen kann zu
Gepräch, zu Kompromiß, zu Rückzug, zu Vertragen usw., aber eben
auch zur körpermächtigen Attacke führen oder zu sonstigen körper-
mächtigen Eingriffen. Diese Aggressivität geschieht zur Durchsetzung
der eigenen Interessen, sie ist ich-bezogene Körpermacht: sie wird
angewandt für mich und nicht gegen dich, sie soll mich erhalten,
nicht dich zerstören, sie ist nicht destruktiv, sondem konstruktiv. Sie
kommt jedem zu, und jeder rechnet mit ihr. Und sie führt keineswegs
immer zum Erfolg, da es genügend Gegenmittel gibt. Kinder haben
z.B. hochwirksame akustisch-emotionale Körpermacht - vom pene-
tranten Nörgelton bis zum tierischen Gebrüll -, die sie als effektive
psychosomatische Körpermacht, als Messerchen im Bauch des
Erwachsenen dessen Muskelkraft entgegensetzen können.

Niemals aber ist Körpermacht durch eine irgendwie bessere
Begründung der einen Seite gerechtfertigt, in dem Sinn, dass der
andere sie sich jetzt zu Recht gefallen lassen muss. Sie ist immer
nur gerechtfertigt auf der Seite dessen, der von ihr Gebrauch macht,
durch sein Notwehrrecht, durch seine Verpflichtung vor sich selbst,
für sich zu sorgen. Sie ist Ausdruck seiner Selbstverantwortung
und deswegen konstruktiv. Aus der Sicht des Betroffenen sieht dies
anders aus, wenn er auch um die Not und Selbstverantwortung des
Angreifers weiß. Aber dies ist ja seine Seite, von der sich der
Betroffene nichts anstecken musss. Der Angreifer wiederum fühlt
sich nicht in der überlegeneren Position, es ist vielmehr die Position
des "Ich kann nicht anders", die ihn kennzeichnet. Er kann sich für
seine Körpermacht entschuldigen.

Das "Bitte verzeíh mir, aber ich kann nicht anders" verletzt nicht
seelisch, es nimmt der Körpermacht ihr demoralisierendes Gift.
Das Reiten auf dem hohen Roß der besseren Gründe verletzt jedoch
sehr wohl, es demoralisiert und vergiftet die Beziehung.

Kinder können lange Zeit mit der Körpermacht unproblematisch
umgehen, bis ihnen die pädagogische Erwachsenensicht die Wehrfä-
higkeit, das nachdrückliche Eintreten für die eigenen Interessen
(Beißen, Kratzen, Schlagen, Treten, Toben, Widerworte geben usw.)
durch das Anbinden an die sogenannten übergeordneten Einsichten
dermaßen zerstört hat, dass sie als Erwachsene im privaten wie im
gesellschaftlichen Bereich kaum mehr effektiv für ihre Interessen
eintreten können.

Auch amicative Menschen können die Kinder in ihre Einsichten
einbeziehen und sie an dem teilhaben lassen, was sie als Notwendig-
keit erfahren. Doch im Unterschied zur pädagogischen Sicht wird
das dann nur etwas Konstruktives, wenn unmissverständlich ist,
dass es sich hier nicht um „Notwendigkeiten“ im objektiven Sinn,
sondem um die subjektive Sicht des Erwachsenen handelt, letztlich
um Willkür für die man sich entschuldigen kann (ich kann nicht
anders).

Der amicative Gedanke ist, dem Kind ein Selbst zuzuerkennen, das
dem des Erwachsenen gleichwertig ist. Dies gilt auch bei der Pro-
blematik "Einsicht in Notwendigkeıten". Durch diese Gleichstellung
wird die demoralisierende psychische Verletzung beim Kind verhindert,
wenn es denn schon zu einem nichtgewollten Verhalten gezwungen wird.

*

PS
Ich schreib hier über Familiensituationen, die sich tagtäglich ereignen,
über Auseinandersetzungen der normalen Art. Einem Ausblenden von
Leid und Trauma bei Übergriffen der gemeinen Art (Verprügeln,
Mißbrauchen, Quälen und andere Schaurigkeiten) red ich nicht das
Wort. Für den reinwaschenden, höhnischen Nonsens "Entschuldige
meine Prügelei" bin ich nicht zu haben.