Mittwoch, 18. Januar 2017

Die gelbe Schlange


Als meine großen Kinder klein waren, habe ich für sie Gute-Nacht-Geschichten geschrieben. Gestern war ich zum Babysitten bei meinem Enkel, auch morgen werde ich mit dem Kleinen, der grad eins geworden ist, wieder eine Glückszeit zusammen sein. Und dann wird eines Tages der Abend kommen, an dem ich aus meinem Geschichtenbuch vorlese...

 *

Die gelbe Schlange

Es war schon dunkel, als die gelbe Schlange aus dem alten Autoreifen den
Kopf nach oben reckte. "Es riecht gut", sagte sie. Sie schob sich ein bisschen.
weiter nach draußen und sah den Stein. "Was zum Teufel ist denn das?"
knurrte sie und verließt ihr Versteck. Dieser Stein funkelte so merkwürdig
dunkelblau. Als sie ihn berührte, durchzuckte sie ein heftiger Stromstoß. Sie
fühlte sich emporgehoben - und sie merkte, dass sie fliegen konnte. Sie sah
die großen Bäume des Parks unter sich, den Bach und die große Wiese. Sie
merkte, dass sie mit dem Schwanz steuern konnte, und sie versuchte, in einer
großen Schleife zurückzufliegen. Sie streckte ihre Schwanzspitze nach unten
- und sie kam langsam tatsächlich immer tiefer. Dann konnte sie so gut steu-
ern, dass sie genau dort landete, wo sie losgeflogen war: Vor dem dunkelblau-
en Zauberstein.

Sie hütete sich, den Stein noch einmal zu berühren - wer weiß, was dann
passieren würde. Erst einmal musste sie verschnaufen. Sie ringelte sich ein
und starrte den Stein misstrauisch an. Aber sie fühlte auch, dass eine seltsame
Kraft von ihm ausging, ein angenehmes Strahlen, wie die Wärme der Sonne
am Mittag. Sie konnte sich nicht entschließen, wegzuschlängeln oder den
Stein zu berühren. "Was ist los?" hörte sie eine Stimme hinter sich. "Du bist
nicht auf der Jagd? Es ist doch schon dunkel." Murz, der grüne Nachfalter,
kam vorsichtig näher. "Pass auf!" schrie die Schlange. Aber da war es schon
passiert.

Murz hatte sich auf den Stein gesetzt - und war augenblicklich ein greller
Feuerblitz geworden. Es gab einen fürchterlichen Knall - und als die
Schlange es wagte, wieder die Augen zu öffnen, da war aus dem Stein eine
riesige grüne Hand geworden. Die Hand hatte die Finger nach oben gereckt.
Aber plötzlich bewegten sie sich! Sie zeigten auf die Schlange und sandten
grüne kleine Blitze aus. Die Schlange fuhr zurück. Aber es war zu spät. Die
unheimliche Hand hatte sie erfaßt und hob sie empor - und wieder begann
die Schlange zu fliegen. Aber sie merkte, dass sie jetzt viel mehr denken
konnte als eben. Sie verstand auf einmal, was die Hand und der Stein bedeu-
teten. Und sie wußte auch, was mit Murz geschehen war. "Ach, so ist das",
sagte sie leise, und sie merkte, dass sie bereits eine kleine hellblaue Wolke ge-
worden war. Sie fühlte sich eins mit dem Wind - und sie war jetzt ein Teil
von ihm.

Als sie am nächsten Morgen über die gelben Sandbänke vor dem Meer flog,
erkannte sie Murz, der zusammen mit dem lila Eichhörnchen im Sand spielte.
Sie flog näher und kräuselte das Fell des kleinen Nagers. "Wir wissen, dass du
es bist", sagte das Eichhörnchen, "auch wenn wir dich nicht sehen können".
Die Schlange dachte nach. "Habt ihr eine Ahnung, wie wir wieder zum Park
kommen können?" fragte sie. "Du musst warten, bis die schwarzrote Möwe
dich einatmet. Wenn sie dann lacht, kommst du zurück", sagte Murz. Er legte
sich auf einen Sandhaufen und schloß die Augen. "Komm, warten wir auf die
Möwe." Und sie lauschten auf die Brandung.