Samstag, 5. Mai 2018

Autonomiephase statt Trotzphase























Eine Mutter erzählt, dass es im Kindergarten jetzt "Autonomie-
phase" heißt statt "Trotzphase". Was soll ich davon halten?

Einerseits ist das ja schon mal was. Der Rappel der Zweijährigen
wird nicht mehr ärgerlich abgetan, sondern achtsam begleitet.
Fortschritt. Wenn die Erzieherinnen die Kinder mit Autonomie-
augen sehen statt mit Trotzaugen, ist das eine gute Sache.

Andererseits kommt es ja darauf an, was dahintersteckt. Alter
Wein in neuen Schläuchen? Und da bin ich schon skeptisch. Es
gibt so eine subtile liebsäuselnde Art, die Zicken der Kinder zu
kontern, die eigentlich noch ekliger ist als ein klarer Ärger über
die Trotzbengel. Das geht ja bis ins hohe Alter: "Wir haben un-
sere Pillchen wieder nicht genommen?!"

Ich will da nicht meckern. Die zeitgemäße Pädagogik bemüht
sich um Achtsamkeit. Man kann jemandem das Zäpfchen mit
Schmackes oder sanft reintun, sanft ist allemal besser. Nur:
Wenn ich gar kein Zäpfchen will? Wem gehört mein Körper,
wem gehöre ich? Auf dieser Ebene wird das alles aber nicht
verhandelt. Kinder gehören sich nicht selbst, das ist der klare
Grundton aller Pädagogik und aller Kindergartenszenarien.

Die Autonomie des Menschen, auch des jungen und jüngsten
unter uns, also auch der Zweijährigen, wie sie die Amication
wahrnimmt, ist bei "Autonomiephase statt Trotzphase" nicht
im Spiel. Es sei denn, den Kindern im Kindergarten steht tat-
sächlich eine Erzieherin mit amicativem Selbstverständnis
gegenüber. Was vorkommt, aber selten ist. Und mir in dem
Gespräch mit der Mutter nicht vermittelt wurde.

Wenn die Kinder mit Innehalten und Nachdruck ihre Wege
gehen und ihre Dinge tun wollen, dann fällt das für mich
nicht aus dem Rahmen. Ihre Souveränität und Autonomie
ist von Anfang an da, sie nimmt nur eine neue Form an. Der
Säugling ist da anders als der Zweijährige, der wieder an-
ders als der Vieljährige, der wieder anders als der Hundert-
jährige.

Das Kontinuum der Autonomie- und Souveränitätswahrneh-
mung, das von ihren (amicativen) Eltern ausgeht und in dem
sie groß werden, gibt nichts her, was eine besonderen Beach-
tung und dann auch Bezeichnung erfordert. Es gibt keine
Trotzphase und es gibt auch keine Autonomiephase in einer
Familie, deren Eltern ein amicatives Selbstverständnis haben.
Ebenso wie es keine "Pubertätsprobleme" gibt.

Es gibt das alles nicht nur als Bezeichnung nicht, sondern diese
"Rappel", "Anfälle" und "Ausfälle" kommen einfach nicht vor.
Der ganze Umgang löst so etwas nicht aus. Autonomie ist ja
von Anfang an immer im Spiel und drückt sich ohne die Kom-
plikationen aus, die es in pädagogisch geprägten Beziehungen
gibt, geben muss.

Beziehungen und ihre konkreten Ausprägungen zu sehen, erken-
nen, einordnen, bewerten und dann auch entsprechend zu bezeich-
nen - dies geschieht vor dem Hintergrund des Menschenbildes,
das wir in uns tragen. Womit ich wieder beim Kontrast von päd-
agogischen Bild (homo educandus) und nicht pädagogischem
Bild (homo jedergehörtsichselbst) angekommen bin.

Ich achte ja ihr Bemühen, ihr Einfühlen, ihr Begleiten. Aber ich
übersehe nicht den scharfen Gegensatz. Und so antworte ich
freundlich, ohne mich zu verbiegen und ohne zynisch zu werden:
"Autonomiephase? Hört sich doch gut an."