Montag, 21. Januar 2019

Raum-Geben







Vortrag. In der Aussprache erzählt eine Mutter: "Ich habe eines Tages meinen Vierjährigen etwas tun  lassen, was ich bislang nicht mitmachen konnte. Irgendwie ging da bei mir eine Tür auf, und seitdem kann ich ihm Raum geben. Und bin immer wieder überrascht von mir, dass ich da so großzügig bin. Und es geht auch immer gut aus. Außerdem kann ich ja jederzeit eingereifen. Damals ging es um Möbel, die er zum Spielen brauchte. Heute, mit sechs, geht es um alles Mögliche."

Raum geben. Was ist da möglich? Und was stellt den Raum zu? Ich weiß immer, was geht und was nicht geht. Nicht geht heißt: Wo es keine Tür und keinen Raum dahinter gibt. Als die Mutter vom Raum-Geben erzählt, merke ich, dass ich das doch auch viel mehr tun könnte. Dass ich es mir mal vornehmen könnte, auf den Schirm laden könnte. So als Vorsatz für das neue Jahr.

Es ist ein etwas ungenaues Gefühl. Ich finde es einfach gut, wenn man, wenn ich Raum geben kann. Andere, mit denen ich zu tun habe, einfach mal machen lassen kann, was sie aber "eigentlich" nicht machen sollten. Wenn Besuch anfängt, bei mir aufzuräumen. Wenn mehr Soja in den Salat kommen soll, als ich das so mache. Wenn mein Auto angefragt wird für eine Fahrt, die offensichtlich unnötig ist. Wenn diese Chips auch noch in den Einkaufswagen sollen. Wenn dieser Saurier im Museum schon wieder besucht werden soll. Wenn ich die kleine lustige Geschichte nochnochnocheinmal erzählen soll. "Kann ich nicht mal...?" "Kannst Du nicht mal ...?"

Den Kindern Raum geben, dem Partner Raum geben. Raum, über den ich bestimme. Raum, den ich öffnen und abgeben kann. Wenn ich mich dem Raum-Geben so im Nachdenken annähere: wieso hab ich das nicht öfter gemacht? Ich gebe ja Raum, aber es könnte mehr sein. Und auch: ich will mich damit nicht unter Zugzwang setzen, überfordern, so dass das alles wieder kippt. Nein, es wird ein gelassenes, verspieltes Raum-Geben sein, mal sehen, was so geht.

Einen Schritt weiter: Ich will mir selbst mehr Raum geben. Mehr "Ja ja, wird schon". Mehr einfach machen, was aufscheint. Nicht so strikt alles bis zu Ende denken. Es nicht übertreiben, aber mehr einfach laufen lassen. Es gibt etliches in meinem Alltagskram, das da lockerer daherkommen könnte. Muss ich immer das Auto vorm Haus zuschließen? Muss ich nicht. Und wenns geklaut wird? Wird es nicht. Und wenn doch? Ja mei, da geht die Welt auch nicht von unter. Wirklich wahr! So ein gewisses "Ist schon gut". Und zwar mit dem guten Gefühl, zu mir zu halten, mich laufen zu lassen. Und wie immer dahinter: Ich bin doch mein eigener Chef, auch in der Raum-Geben-Frage.

Und da gibt es ja auch so eine kleine Neugierde: Was kommt da eigentlich, wenn ich Raum gebe? So eine kleine Vorfreude. Was wartet da auf mich?

Vor Zeiten las ich etwas von nordamerikanischen Indianern dazu. Ein Bild hat mich seitdem begleitet, hier ist es. Doch zunächst die Einleitung von Uwe Stiller, der die indianischen Texte gesammelt hat*: "Die weiße Gesellschaft geht davon aus, dass der Erwachsene grundsätzlich ALLES, das Kind NICHTS weiß. Das Resultat ist eine Statik oder Verkümmerung der Sinnesorgane und der Phantasie, denn für eigene Erfahrungen und Beziehungen zu den Dingen wird dem Kind kein Raum gelassen."

Und jetzt das Bild**: "So wollte ich einmal zum Beispiel zum Jagen gehen. Die Älteren wussten, dass ich nicht über den Fluss kommen konnte, weil er über die Ufer getreten war. Aber sie sagten nichts. Sie ließen mich gehen und ich sagte ihnen noch, dass ich sie später wieder treffen würde, und sie sagten o.k. Und wussten doch die ganze Zeit, dass ich nicht an das andere Ufer gelangen konnte. Aber sie sagten es mir nicht, sie ließen es mich erfahren. Außerdem hätte es natürlich sein können, dass ich doch noch über den Fluss gekommen wäre, wo sie es nicht konnten, dass ich vielleicht eine andere, neue Methode entdeckt hätte."

Und dann spannt Uwe Stiller den großen Bogen: "Die Möglichkeit des vielleicht eine neue Methode Entdeckens - das ist ein Charakteristikum einer offenen Gesellschaft, einer Gesellschaft, die offen für jede neue Erfahrung ist. In der westlichen Gesellschaft hat der Künstler die Möglichkeit von neuen Erfahrungen, von der Um- und Neudefinierung von Begriffen. Zum Teil steht diese Möglichkeit auch Wissenschaftlern offen. Egal, die europäische Gesellschaft hält sich professionelle Erfahrungssammler, während diese Möglichkeit indianischen Kindern als eine Selbstverständlichkeit gegeben war. Und sie wurden dabei von den Erwachsenen durchaus ernst genommen."

Tja..."Außerdem hätte es natürlich sein können ..."


* Uwe Stiller, Das Recht anders zu sein. Traditionelle Alternativen des indianischen Amerika. Verlag Jakobsohn, Berlin 1977, S.41
 ** Pelletier.W. /  Poole.T., No Foreign Land. The Biography of the North American Indian, Panteon Books, New York 1973. In: Uwe Stiller, s.o.