Dienstag, 9. Januar 2018

Normaltherapie





















"Es ist doch offensichtlich, dass er nicht normal ist. Kann er
nicht eine Therapie machen?"

Ein wirklich weites Feld! Erst mal die ganze große Fragerei,
was denn normal ist. Und dann die ausufernde Debatte, was
eine Therapie überhaupt sein soll und was so ein Psychoding
denn bringt.

Ich habe immer wieder mal mit Menschen zu tun gehabt, die
sich so außerhalb von dem benahmen, das ich als normal und
gerade noch normal eingestuft habe. Klar, so eine Einstufung
ist  mein subjektiver Maßstab. Aber den habe ich nun mal und
ich finde es auch abenteuerlich, wenn man jedes Psychoding,
was da so abgeht, als normal einstuft. Übergeordnet, in kos-
mischem Schwelgen, ist alles normal, klar doch. Aber in meiner
kleinen Alltagswelt unterscheide ich eben.

Wenn ich jemanden also für durchgeknallt, spinnert, abgedreht,
eben für nicht normal halte, dann ist da Respekt und Würde
dabei. Wertschätzung. Aber ich lasse mir auch kein X für ein U
vormachen.

Ich glaube nicht, dass diese Menschen, die ich für nicht normal
halte, sich auch so sehen. Aus ihrer Welt sind sie normal. Auf
einem Seminar war einmal eine Teilnehmerin, die duschte und
duschte und duschte. Es fiel auf. Sie war sicher fünf Stunden
am Tag unter der Dusche. "Findest Du, dass Du normal bist
mit Deiner Duscherei?" habe ich sie gefragt. Sie war erstaunt:
"Ja, natürlich".  Konnt ich stehen lassen. Aber nicht mitgehen.

Jüngst habe ich einen Menschen erlebt, der partout die Grenzen
anderer als Provokation erlebt, wenn sie ihm mitgeteilt werden.
"Kannst Du das lassen?" bewirkt bei ihm, dass er es grade nicht
lassen kann. Da muss er seine Souveränität verteidigen oder
feiert sonstwas ab, Kindheitstrauma und Co. Ich finde ihn nicht
normal, nach meinen Maßstäben.

Gespräch darüber? Haben viele versucht, geht gar nicht. Da
fragt er seltsam zurück: "Hast Du ein Problem?" und so. Tja.
Ich habe ihn aus meinem Leben verbannt, rausgetan, bis auf
Ausnahmen. Wer mein wirkliches wichtiges Nein nicht gelten
lassen kann, der ist nichts für mich.

Dann wurde - ohne ihn - diskutiert, ob er nicht eine Therapie
machen könnte/sollte/müsste. Klar, sein Verhalten ruft ja schon
danach. Nur: Wie soll denn so etwas an ihn rangetragen werden?
So, dass er es nicht als herabwürdigend erlebt? Liebevoll? Was
soll denn sowas werden! "Weil wir Dich gern haben, machst
Du mal eine Therapie. Ist gut für Dich." Klar, das kann man
auch softer formulieren, aber das Geschmäckle bleibt doch.

Wenn die Kinder krank sind und ich mit der Medizin komme,
bin ich da auch so unterwegs? So, dass ihre Würde auf der
Strecke bleibt? Mildred im Kuckucksnest? Klar schlucken
sie den Hustensaft, da gibt es kein Vertun, da setze ich mich
durch, wie das so schön heißt. Aber in diesem Fall?

Man kann im Unterschied zum Hustensaft ja auch niemanden
zu einer Therapie zwingen. Funktioniert dann nicht. Obwohl
er es ja gut gebrauchen könnte. Gut gebrauchen? Ja, um in
der Welt, seiner sozialen Welt, mit mehr Sonnenschein und
weniger Streit zurechtzukommen. Aber da fängt das Theater
der Subjektivität gleich schon wieder an: Vielleicht ist es ja
so, dass er mit seiner Souveränitäts-Verteidigungs-Reaktion
(die aus meiner normalen Sicht völlig überkandidelt ist)
ganz zufrieden ist. Dass es ihm halt gut geht damit. Hab ich
das zu kritisieren? Weiß ich da besser als er, was für ihn gut
ist? Hab ich nicht und weiß ich nicht!

Ein Freund sagt mir, er will den Kontakt zu ihm nicht so
einschränken wie ich. "Und was machst Du dann, wenn er
Deine Grenzen nicht respektiert?" "Kommt drauf an. Sagen
kann ich sie ihm nicht, ohne dass es ungutes Theater gibt.
Ich mogle mich irgendwie drumrum." Die Grenzüberschrei-
tungen der anderen kann ich auch bis zu einem gewissen
Grad hinnehmen. Normal ist es, wenn ich das sagen kann
und so etwas ausgetragen wird. Aber bei ihm geht das
nicht. Weil er (da) nicht normal tickt. Weil er dann erst
recht das tut, was mir zuviel ist. Und das auch noch so
psychoschräg begleitet.

Ich bin schon betrübt, dass ich da mit ihm nicht auf einen
grünen Zweig komme. Denn ich mag ihn und er ist in
vielen Dingen bereichernd. Ein wertvoller Mensch in
meinem Leben. Nur, dass er mir einfach zuviel geworden
ist. Und dass die Medizin, die es gibt, die Therapie, für
ihn außerhalb seiner Denk- und Reichweite ist. Und ich
sage mir, dass es eben auch immer wieder Dinge gibt,
die einfach nicht gehen, so gern ich sie auch hätte. Ich
bewahr ihn halt in meinem Herzen. So normal-unnormal
wie er ist.