Samstag, 20. Januar 2018
Amication leben, Ursula
Es ist mir doch schwerer gefallen als ich dachte, das in Worte zu
fassen, was so schwer zu beschreiben ist. Ich weiß, dass durch die
Amication eine Entwicklung eingeleitet wurde, die noch lange nicht
beendet ist, und wo ich auch nicht weiß, wo sie hinführt. Ich habe
versucht, das Wichtigste davon aufzuschreiben.
Ich bin ein anderer Mensch geworden und sehe mich heute mit
anderen Augen. Mein Selbstbild hat sich verändert und damit auch
meine Umwelt.
Jeder Mensch, dem ich begegnete, hatte das Recht und die Macht,
mich zu beurteilen und zu bewerten. Mein Selbstwertgefühl wurde
von meiner Umwelt bestimmt. Ich hatte Angst, mich so zu zeigen,
wie ich bin. Ich versuchte, mich so zu verhalten, wie es der andere
von mir erwartete, um nicht abgelehnt zu werden. Ich übemahm die
Wertmaßstäbe meiner Umgebung und beurteilte meinerseits meine
Mitmenschen. Ich teilte sie in Gruppen ein und steckte sie in "Schub-
laden". Das ist So-Einer! Gleichzeitig hatte ich die größte Angst davor,
selbst in solche "Schubladen" gesteckt zu werden. Ich glaubte, meine
Mitmenschen würden mich vielleicht verurteilen ohne mich richtig zu
kennen. Aber ich kannte mich ja selbst nicht! Wie sollten andere mich
kennenlernen, wenn ich mich immer vor ihnen versteckte?
In den amicativen Selbsterfahrungsgruppen hatte ich nun Gelegen-
heit, mich zu zeigen und selbst kennenzulemen. Ich war neugierig
auf mich, hatte aber gleichzeitig große Angst. Was würde geschehen,
wenn sich bei mir Eigenschaften zeigten, die ich bei anderen stets
verurteilt hatte? Müßte ich mich nicht selbst verachten?
Erst ganz langsam begriff ich, dass jede Eigenschaft, jedes Gefühl
und jede Stimmung ein Teil von mir sind, dass das immer ich bin.
In einer Gruppensitzung hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, als
Person einen Wert zu haben, ohne etwas dafür leisten zu müssen.
Dieses neue Selbstwertgefühl veränderte mein Leben, weil niemand
es mir mehr nehmen konnte. Ich wusste, ich bin etwas wert, nicht
vom Kopf her, sondem von innen heraus. Ich habe wieder gelemt,
Gefühle wahrzunehmen und ihnen zu trauen.
Früher glaubte ich, nur dem Wort trauen zu können, und wie oft
kamen mir Zweifel, ob ich nicht belogen wurde. Heute kann ich
Gefühle zeigen, manchmal brechen sie auch aus mir heraus, ohne
dass ich sie aufhalten kann.
Früher war ich stolz darauf, dass keiner wusste, was mit mir los war,
heute will ich es nicht mehr. Ich versuche, mich immer mehr anzu-
nehmen, so wie ich bin. Alle Eigenschaften, die sichtbar werden,
gehören zu meiner Person.
Das hat auch Auswirkungen auf meine Umwelt. Ich kann die Ge-
fühle und Eigenschaften meiner Mitmenschen viel besser akzep-
tieren. Ich bin ehrlicher zu ihnen geworden. Ich kann ihnen ihre
Gefühle lassen. Ich weiß, dass sie nicht immer etwas mit mir zu
tun haben. Wenn mein Mann lieber ein Buch liest anstatt mit mir
etwas zu untemehmen, dann tut er etwas für sich und nicht etwas
gegen mich. Wenn mein Sohn sich über mein Verhalten ärgert und
wütend ist, dann lehnt er mich deshalb nicht ab. Das war am schwers-
ten für mich zu begreifen!