Montag, 3. Juni 2019
Ich glaube an Leben und Tod
"Ich glaube weder an Gut noch Böse, ich glaube an Leben und Tod". In einem Brief schrieb mir neulich eine Freundin diesen Satz. Er hat mich beschäftigt.
Ich glaube an das, was ich für wahr halte. Was real ist, für mich, was wirklich existiert in meiner Welt. Liebe zum Beispiel. Oder die Sonne, mein Auto, die Tastatur, mit der ich schreibe. Tausend Sachen, dingliche und nichtdingliche, sind von meinem Glauben an sie umgeben und getragen. Sie sind mir so nah und verbindlich wie was. So wie das, dass ich eben an sie glaube.
Klar, diese Glaubensgeschichte hat viele Ebenen. "Ich glaube an Dich" ist anders gestrickt als mein Glauben an die Tastatur vor mir. Whatever. Der Gedanke meiner Freundin ist aber von besonderer Qualität.
Gut und Böse sind mir ja bekannt. Die beiden soll es geben, steht in zig Büchern und begegnet mir als Fixpunkt bei zig Menschen. Ich kenn dieses Paar. Nur: es hat für mich keine wirkliche Substanz. Kann ich in meiner Welt nichts mit anfangen, wohnt dort nicht. Klar kann ich mitreden, wenn es um Gut und Böse geht, ich bin ja nicht aus der Zeit gefallen und schließlich katholisch groß geworden. Nur. bei mir wohnen sie nicht, Gut und Böse. Sind einfach nicht zu finden in meinem Kosmos, wenn ich mich mir zuwende. Ich glaub nämlich auch nicht, dass es sie wirklich gibt.
Sie sind Fantasie, Interpretation von irgendwas, Hirngespinste. Spinnertes kann man sich alles Mögliche ausdenken, wie immer ist da jeder sein eigener Chef. Und in der Kreation seiner eigenen Welt allemal. Wo dem einen Gut und Böse dazugehört - gehörts bei anderen, wie bei mir und dieser Freundin, eben nicht dazu.
Aus gutem Grund. Ich finde es unangemessen, achtungslos, überheblich, unterdrückerisch, wenn man irgendwohin das Etikett Gut oder das Etikett Böse klebt. Das hat so einen Absolutheitsanspruch, der mir echt unangenehm ist. "Find ich gut" oder "find ich blöd (böse)" als subjektives Freude- oder Ärgerstatement, das kann ich gelten lassen und praktizier es. Aber Gut und Böse als Tatsachen des Lebens? Überkandidelt, fehl am Platz. Jedenfalls kann ich an das Pärchen nicht glauben. Wiewohl, um es noch einmal zu sagen, ich sehe, dass andere dies Pärchen als real existierende Geschichte erleben. Ich nicht. Gut und Böse gibts nicht, nicht für mich. Da steckt das ganze schaurige 10.000 Jahre alte patriarchalische Herschaftsdenken drin. Weg damit! Postmodern und amicativ durchgeatmet.
Leben und Tod? Das ist eine andere Nummer. Der Falter, der hier nachts um mich rumflattert: Pralles Leben. Die mausetote Maus, die ich heute nachmittag bei der Radrunde gesehen habe: voll die Wahrheit. Da kann ich dran glauben, und da glaube ich dran. Leben und Tod gehören zu meiner Welt. Im Leben bewege ich mich, schwimme drin wie im See heute Nachmittag, kenn ich, kann ich. Tod? Ist mir fremd, aber habe ich auch erlebt, vorhin bei der Maus, oder bei den verschiedensten Beerdigungen, oder vor Jahren bei dem überfahrenen Kind. Schön wars nicht, aber real existierend. Was zum dran glauben eben.
Diese Gut-und Böse-Geschichte ist ein Grusel. Als Kind wurde ich, wurden alle wir Kinder, damit in Acht und Bann geschlagen, unseres eigenen Pfads beraubt, beherrscht. Ich war niemals böse, ich war niemals gut, ich war, fand statt, und aus. Was sollte das? Diese Einstufung meines Tuns, meines Ichs, als "gut", als "böse"? Die spinnen doch, die Großen. Und sie spinnten ja auch. Laberten mich voll mit ihrem in ihrer Kindheit aufgesaugten Quark, überliefert seit Urzeiten hinein in die Kinder in die Kinder in die Kinder. Schaurige Tradition. Schauriger Zeitstrang. Echt, und was es da alles für Schreckliches gibt. Nur ein Beispiel: Hieronymus Bosch, Die Versuchung des Heiligen Antonius, besonders "gelungen" in der Version von Joos van Craesbeeck. Leute, gehts noch?
Ich kann nichtüberheblich und liebevoll mit diesen Fantastereien der anderen umgehen. Nach dem Motto: Wenn sie es denn brauchen - dann sollen sie doch an ihr Gut und Böse glauben. Bittesehr. Bescheidene Frage: Macht das glücklich? Ist das Frieden? Ist das Liebe? Glaub ich eher nicht. Und dann spür ich all das Leid, das durch dieses Unglückspaar über die Leute kommt, in die Herzen der Kinder, auch in die Herzen der kleinen Kinder.
Ich habe neulich einen Dreijährigen verstrickt in die Gut-und-Böse-Wucht erlebt. Das hat so eine Macht. Wenn ich da die Macht hätte, wie würde ich dazwischen gehen! Ich bin ja dabei gewesen, und mit mir mein unausgesprochenes "Das gibt es nicht, gut und böse, und Du bist ein Ebenbild Gottes, ich glaube an Dich, nimm meine Kraft". Mehr kann ich nicht machen, aber das schon. Er sah zu mir hin - und ich sah zu ihm hin. Ich hielt dieses Kind im Paradies.