Montag, 4. März 2019

Das Leid der anderen







Im Zuge der Vatikan-Konferenz zum Missbrauch las ich einen Kommentar von Tassilo Forchheimer, ARD-Studio Rom vom 24.2.Um diese Passage seines Kommentars geht es mir jetzt:

"Ganz offensichtlich leben viele Kirchenobere in einer Art Paralleluniversum, das es ihnen schwer macht, Gefühle anderer Menschen richtig einzuschätzen...Wie kann es sein, dass diese Kirchenmänner so lange blind waren für das große Leid im eigenen Haus?"

Blind für das Leid anderer? Da tut sich eine sehr große Tür auf, die Tür zum Leid der anderen. Das Öffnen der Tür wird hier garniert mit dem erstaunt-entrüstet-bigotten "Wie kann es sein?" Ja mei! Leute, wo lebt ihr eigentlich? Es gibt dermaßen viel Leid auf dieser Welt, dass es eher an ein Wunder grenzt, dass Leid seiner Selbstverständlichkeit und Allgegenwart entrissen wird, bemerkt wird, erkannt wird, benannt wird. Wir sind heute offener und kundiger in der Leidwahrnehmung als in früheren Zeiten, und das ist gut so. Aber dieses "Wie kann es sein?" finde ich anmaßend.

Beispiele gefällig für Leid, konkretes, das nicht erkannt und thematisiert wird? Bitte sehr: Das Leid jedes Kindes an der Schule. Schultraumatisierung des einzelnen, Schultraumatisierung der Gesellschaft. Dieses tabuisierte Leid habe ich als Lehrer bemerkt und mich drum gekümmert, seit über 40 Jahren - wer zieht mit und merkt was? Wenige, sehr sehr wenige. Das Leid der Tiere, die wir einsperren, dahinvegetieren lassen, umbringen und auffressen: Immerhin, es gibt seit einiger Zeit mehr und mehr Vegetarier. Das Leid der Bäume, die wir zerstören, um Bücher und Zeitungen daraus zu machen: Sieht keiner. Das Leid der Mikroorganismen, die wir bei jedem Schritt durch die Welt mit den Füßen zerquetschen: sieht keiner. Abertausend Beispiele. Und: Das Leid der Kinder, die sexuell konsumiert werden: ja, das ist grade dran, große Glocke. Die neue Leid-Sau, die durchs Dorf getrieben wird.

Durchs Dorf der Rechtschaffenen. Die sagen, wo es lang geht. Die Deutungsmacht beanspruchen und ausüben und den Ton angeben. Die sich entrüsten: "Wie kann das sein..."

Ich sehe dieses Leid der missbrauchten Kinder. Ich sehe auch anderes Leid, so viel Leid... Ich sehe, dass dieser Planet von Leid und von Freud gezeichnet ist. Was dem einen seine Nötigkeit und Freude ist, ist dem anderen sein Missbrauchtwerden und sein Leid. Das sehe ich als Realität, und eine Besserwisserei, ein Moralisieren finde ich in dem ganzen Szenario daneben.

Wenn ich Leid erkenne, bin ich gefragt, gefordert. Wegsehen. Hinnehmen. Eingreifen. Verringern. Vorbeugen. Es gibt viele Möglichkeiten. Ich bin in meiner Verantwortung für mich und meinen Weg durchs Leben gefragt: wie will ich mit dem Leid vor mir umgehen? Der Leid der Schulkinder? Der Ess-Tiere,? Der Papier-Bäume? Der Mikros? Der Beute-Kinder?

Und, nächste Frage: wie soll ich mit den Leidzufügern umgehen? "Täter" sagen, diese Menschen diskreditieren, Mühlsteine um den Hals? Diese destruktiven Hassorgien der "Guten" nerven wirklich. Wer so mit dem Leid der anderen umgeht, sich nicht nur kümmert um die Leidenden und die Leidzufüger stoppt, sondern wer die Leidzufüger als Monster brandmarkt, fügt gleich wieder Leid zu, vermehrt das Leid der Welt, steigt nicht aus dem Leidstrudel aus. Der Weg zum Frieden kann nur der Frieden selber sein.

Es gibt nur Ebenbilder Gottes. Was immer sie tun. Wenn aus ihrem Tun Leid entsteht, dann kann ich ihnen Einhalt gebieten. Wenn das in meiner Macht steht. Aber ich muss sie nicht - bei allem Leid, dass dann durch mein Eingreifen entsteht - noch obendrein ihrer Würde berauben: "Täter" ist so ein würderaubender Begriff. "Missbrauch" ist so ein würderaubender Begriff. Das führt doch keinen Schritt weiter!

Ich kümmere mich um das Leid der anderen. Aber ich vergrößere nicht das Leid der Welt durch die Verteufelung des Leidzufügers. Ich achte ihn - auch wenn ich ihn ausschalte. Bischöfe, die das Leid der Kinder nicht sehen - Fleischesser, die das Leid der Tiere nicht sehen - Zeitungsleser, die das Leid der Bäume nicht sehen -
Wir Normalos, die wir das Leid der Mikros nicht sehen. Ja, wenn wir ihnen etwas von dem vermitteln können, was wir sehen, dann gelingt etwas. "Einige Bischöfe scheinen tatsächlich erst jetzt verstanden zu haben, was in Missbrauchsopfern vorgeht" schreibt Forchheimer. Das ist doch super! Mehr geht doch gar nicht!

Das alles lässt sich auch ganz klein verhandeln. Wenn ich meine Partnerin verlasse - sehe ich das Herzeleid, das dann bei ihr entsteht? Wenn sie mich verlässt - sieht sie  dann mein Leid? Wenn ich ein Kind ermahne - sehe ich das Leid, wenn seine Krone fällt? Wenn ich eine Bitte abschlage - sehe ich das Leid des Bittenden? Wenn ich einem "Nein", "Komm", "Geh", "Bleib" nicht folge - sehe ich das Leid des anderen?

Und dann: Wieviel Leid will ich auf mich nehmen, um das Leid des anderen zu verringern? Wie sehr will ich auf mich verzichten und mich hintanstellen, damit Du an mir nicht leidest? Mein Leid ist das Leid der anderen. Das Leid der anderen ist mein Leid.