Montag, 29. Oktober 2018
Hinschauen oder Wegschauen
Ich bekomme mit, wie zwei ältere Kinder (9) ein jüngeres Kind (6) ärgern. Lars und Moritz lassen Nils nicht mitspielen, obwohl sie zu dritt verabredet sind. Nils sitzt da und weint.
Das kann ich nicht so stehen lassen. "Ihr seid zu dritt unterwegs", sage ich zu den beiden. "Lasst Nils nicht hängen." Es kommt nichts Nettes. "Der heult doch nur." Was jetzt?
Soll ich mich kümmern, mehr als diesen Satz einwerfen? Wenn ich weiter interveniere, werde ich als jemand wahrgenommen, der die übliche Macht hat. Die Macht, anzuordnen, was Kinder zu tun und zu lassen haben. Das ist nichts, was ich will, und nichts, wie ich mich verstehe. Ich lasse die Kinder ihre Dinge tun, kommentier das schon mal, misch mich auch schon mal ein, lass auch kein Kind an der Steckdose rumspielen. Aber eigentlich: lass ich sie ihre Dinge tun.
Eigentlich. Aber jetzt wegschauen? Ich will den weinenden Nils nicht im Stich lassen. Ich will aber den beiden Großen auch nicht vorschreiben, was sie zu tun haben, also Nils mitspielen lassen.
Dilemma, Zwickmühle. Da ist Haltung gefragt. Nicht Wegschauen. Hinschauen. Und aktiv werden.
Na ja, das ist ein generelles Problem/Thema. Kommt am Tag zig mal vor, mal kleiner, mal größer. Einmischen bei einem Streit im Supermarkt? Hab ich gemacht. Einmischen bei einem Parkplatzstreit? Hab ich nicht gemacht. Unterschrift für den Erhalt der Kita? Hab ich gemacht. Demonstration für den Hambacher Forst? Hab ich nicht gemacht. Mal schau ich hin und tu was, mal schau ich weg und tu nichts.
Wenn ich nichts tue, obwohl ich etwas tun könnte. Wenn ich das Ungemach/Leid/Übel stehen lasse, was mir über den Weg läuft und mich ruft - dann sag ich, dass ich mich nicht um alles kümmern kann. Was aber so ja nicht stimmt, denn um vieles von dem Alles könnte ich mich ja sehr wohl kümmern. Angefangen damit, vegetarisch zu essen, mit dem Rad zum Einkaufen zu fahren, bei
Greenpeace Mitglied zu werden.
Es gibt da eine Bremse in mir. Ein Stoppschild. Ja, ich könnte dem Bettler einen Euro in seinen Becher tun, aber ich tus nicht. Ziemlich gemein, mein Einkauf hat 25 Euro gekostet, und jetzt
kein Euro für den Mann ohne Beine? Ich bin da nicht stolz drauf oder irgendwie so naseweisaufmichaufpasserisch. Ich finds blöd, aber ich lass es dann so sein. Nehms mir nicht übel, aber find es eben auch nicht schön. So eine Mischung.
Nils Tränen sind mir aber zuviel. Die fehlenden Beine des Bettlers waren es nicht. Wie soll ich da gut rauskommen? Mir ist klar, dass ich den Großen nicht Sympathie verordnen kann. Sowas funktioniert nicht. Aber ich kann mich unabhängig von einer Intervention bei Lars und Moritz um Nils und sein Leid kümmern.
"Die wollen nicht mit Dir Spielen." Feststellung, Kontaktaufnahme. Das ganze "Sollen sie aber doch" wisch ich weg. Ich nehm Nils auf den Arm. "Komm, wir holen Salat aus dem Garten fürs Abendessen."