Ich bin zum Einkaufen in der Stadt unterwegs. Eine Mutter und ihre fünfjährige Tochter kommen mir entgegen. Die Mutter ist über irgendetwas schwer verärgert und schimpft laut auf das Mädchen ein. Die Kleine schaut mit dem typischen betroffenen und getroffenen Kinderblick nach unten. Sie ist schwer angefasst, im Verhexungsmodus. Das will ich nicht so passieren lassen.
Ich habe mir immer gesagt, wenn so eine Szene auf mich zurollt, dann tue ich etwas. Was? Die schimpfende Mutter oder den schimpfenden Vater darauf ansprechen … das geht gar nicht. „Was geht Sie das denn an!“ lauert und verbessert nichts. Ich habe mir schon lange überlegt, dass ich den Großen da anders rausholen muss. Meine Idee: Nach der Uhrzeit fragen. Die Leute sind immer höflich und nett, sehen auf die Uhr und sagen mir, wie spät es ist. Das kann doch auch in so einer Situation funktionieren. Dann sind die schimpfenden Eltern ein paar Sekunden raus aus der unguten Verstrickung mit ihrem Kind. Holen sozusagen Luft. Und dann gehen sie entspannter zusammen weiter. Vielleicht gar ohne Schimpfe. Soweit die Theorie.
Als die beiden nun auf mich zu kommen und ich das Gesicht das Kindes sehe, hole ich tief Luft. Darf ich in so eine private, intime Sphäre einbrechen? Wie übergriffig ist das denn? Aber: Ich bleibe vor den beiden stehen. „Haben Sie vielleicht die Uhrzeit? Wissen Sie, wie spät es ist?“ Die Mutter sieht von ihrer Tochter weg zu mir, ihr verspanntes Gesicht wird freundlich, sie sieht auf ihr Handgelenk, und: „Es ist viertel vor Fünf“. „Danke“, sage ich. Wir setzen unsere Wege fort.
Es hat funktioniert! Die Mutter – das merke ich, weil ich noch einen Moment stehen bleibe und zu den beiden sehe – redet jetzt ruhig und ohne Schimpfe mit ihrer Tochter. Es hat funktioniert! Und gleichzeitig dabei, während ich mit der Mutter im Kontakt bin – der volle Lohn: Das Mädel sieh mich in der kleinen Szene erstaunt, ungläubig, von innen heraus an. Ich komme von einem anderen Stern. Ich bin ein Alien, der sie aus der Dunkelwelt herausholt. Ich bekomme einen Blick, der mein surreales Manöver herzinnig belohnt.
Ich habe Frieden gestiftet. Die Ärgerwolke weggeschoben, die Liebe der Mutter wieder hervorgelockt. Magie, die ich kann und die mich erfüllt.
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Ich bin im Kino, es gibt einen fast dreistündigen Actionfilm. Futuristisches Weltall, Heldentaten, ein verletzter Freund wird gerettet (Guardians of the Galacy). Die dunklen Mächte werden überwunden, Frieden und Liebe obsiegen. Als der gerettete Freund zum Schluss aufgefordert wird, Rache zu nehmen und den Oberschurken zu töten – da macht er das nicht, er lässt ihn leben: „Ich bin ein Wächter des Universums“, sagt er. Des Friedens und der Liebe, ergänze ich.
Der Film ist aus, es beginnt der Abspann. Im Kino ist junges Volk, Pärchen, Cliquen. Alle stehen auf, kaum dass der Film zu Ende ist. Zurück vom Fantasy in die Realität, Jacken und Mäntel an. Nur ich sehe mir immer noch den Abspann an, um die Filmzauberei ausklingen zu lassen. Normalerweise. Diesmal aber: Alle, wirklich alle, bleiben sitzen, bis auch der Abspann vorbei ist und die Kinobeleuchtung aufflammt. Und auch dann entsteht keine Unruhe, Eile. Sie sitzen noch, quatschen, stehen langsam auf.
Was ist das? Die Magie des Films spricht mit den jungen Leuten. Sie erleben, sie haben Momente heiler Welt. Die sie in den Sitzen lässt. Bei all dem Chaos – Ukrainekrieg, Corona, Klimakrise – hier holen sie Luft. Wie anders werden sie groß als unsereins, was alles lastet auf ihrer Lebensfreude. Hier nun: Magie des Friedens und der Liebe.
Ich denke an den Menschen, der hinter diesem Film steht. Ich fühle Verbundensein. Was ich auf der Straße geschaffen habe, das schafft er auf der Leinwand.